"El tiempo lento" von Benjamin Reynal


Am 1. September 1998 um 8 Uhr morgens brach Benjamin Reynal, 23 Jahre alt, mit seinen beiden Pferden “El Pampa” und “Rosillo” in Nordargentinien auf, um sich und sein Land kennenzulernen.

"Ich hatte keine Ahnung, wie für mich ein ganzer Tag aussehen würde, noch was ich denen sagen würde, bei denen ich bleiben wollte. Meine Vorstellung flog davon und erfand Wege, Orte und Gespräche. Ich wollte so schnell wie möglich viele Kilometer zwischen meinem Zuhause und mir zurücklegen. Ich musste fühlen, dass ich endlich auf Reisen war. Ich musste mich der bekannten Blicke, der nicht ausgesprochenen Meinungen und Urteile und meiner Angst entziehen. Und solange ich noch in der Nähe meines Zuhauses war, kam ich mir fast lächerlich vor.”

Ich hielt Benjamins Buch mit dem Titel “El tiempo lento” in der Hand und las diese Zeilen. Benjamin Reynal lebt mit seiner Familie in Bariloche, liebt den See und die Berge und ist Autor, freiwilliger Feuerwehrmann und Unternehmer. In dieser Reihenfolge, so hatte er es mir gegenüber betont. Ich hatte ihn in einem Café am Lago Gutierrez getroffen. Wir würden uns noch einmal wiedersehen, nachdem ich “El tiempo lento” gelesen hätte, so waren wir verblieben.

Auf dem Rückweg erinnerte ich mich, wann und wie ich zum ersten Mal von Benjamin Reynal gehört hatte.

Auf einer meiner früheren Heimreisen von Bariloche nach Deutschland, es ist bestimmt schon drei oder vier Jahre her, hatte ich einen Tag Aufenthalt in Buenos Aires und genügend Zeit, die schönste und größte Buchhandlung der Stadt, das Ateneum, ein ehemaliges Theater, zu besuchen. Von den bestimmt mehr als zweitausend Büchern, Fotobänden und Karten fiel mir ein Buch besonders auf. “Gegen das Feuer - Brände, Katastrophen und Rettungen aus der Sicht eines Feuerwehrmannes” von Benjamin Reynal, einem Feuerwehrmann von Melipal, einem Stadtteil in Bariloche. Ich kaufte es, las es zu Hause in Deutschland, war fasziniert von seinen Beschreibungen, Recherchen und Berichten und vielleicht auch von seinen Erfahrungen, seiner Nähe zu Katastrophen, Krisen und lebensgefährlichen Situationen. Waldbrände drohten im Sommer immer wieder um Bariloche herum. Blitzeinschläge oder schlecht gelöschte Feuerstellen waren meistens die Ursache und versetzten uns alle in Angst. Ich fürchtete mich vor rotglühenden Himmeln, beizender Luft oder dunklen Rauchwolken, hörte, wenn es irgendwo brannte, ständig Nachrichten oder rief Freunde an, die vielleicht besser als ich Bescheid wussten.

Als im letzten Jahr im Nationalpark Nahuel Huapi ein Brand ausbrach, man nur über den See zum brennenden Wald kam, Feuerwehrleute wochenlang unterwegs waren, bis dann ein erlösender Regen die Gefahr nahezu bannte, fiel mir der Autor und Feuerwehrmann aus Melipal wieder ein. Ob er wohl bei diesem Einsatz dabei war? Den Titel und den Namen des Autors hatte ich vergessen und das Buch “Gegen das Feuer” war längst in einer Umzugskiste im Kellerraum eines Hauses einer Freundin in Deutschland versunken.

Die Argentinier haben für fast alles und alle einen bestimmten Tag, so auch “El dia del bombero”. Und da fiel mir das Buch wieder ein und ich begann zu recherchieren. “Feuerwehrmann, Buch, Melipal”. Mit diesen Stichwörtern fand ich Benjamin Reynals Kontaktdaten, schrieb ihm eine Nachricht, er antwortete und ein paar Tage später saßen wir im Café Local am Lago Gutierrez.

Benjamin erzählte mir von seinem zweiten Buch, ein vielleicht noch viel persönlicheres. Er war als junger Mensch neun Monate, über fünftausend Kilometer durch fünfzehn Provinzen Argentiniens geritten. Das hatte ihn geprägt. Das war eine Entfernung in Raum und Zeit, die ihn verändert hatte. Da gab es Erinnerungen, die nicht verschwinden sollten, Erfahrungen, die er benennen wollte, Momente, einzigartig, die so nie wieder in seinem Leben aufgetaucht waren. Über zwanzig Jahre später hatte er sich an den Schreibtisch gesetzt und begonnen all die Tage und Nächte beim Schreiben noch einmal zu erleben.

“Ich war gut ausgerüstet. Eine Satteldecke und ein Sattel, jeweils ein Zaunzeug aus Leder, ein Paar Bandagen und leichte Trensen. In einer kleinen Satteltasche trug ich Wechselkleidung, darunter den alten Wollpullover aus meiner Schulzeit, und ein kleines Paar Satteltaschen, die zusammen nicht mehr als zwölf Kilo wogen eine kleine Erste Hilfe Tasche…, eine Taschenlampe und ein Notizbuch, ein Taschenradio und eine ganz kleine Kamera. Im Gürtel trug ich ein Messer. Eine desinfizierende Seife für mich, die Kleidung und die Pferde. Unter der Satteldecke, in einer Lederfassung hatte ich einen Revolver versteckt. Zu guter letzt noch einen Regenumhang und einen Poncho aus Wolle. Nichts mehr und nichts weniger.”

Was mich vom ersten Kapitel an faszinierte, war die enorme Gastfreundlichkeit der Menschen, die den jungen Reiter bei sich zu Hause aufnahmen. Benjamin kam abends nach einem langen Ritt immer irgendwo an. Auf einer Estancia, einem kleinen verlassenen Haus, einer Schule, einem Stall, in einem Dorf oder einfach nur an einer Koppel. Selten übernachtete er unter freiem Himmel, meistens konnte er in den Abendstunden mit jemanden sprechen. Er ging auf die Menschen zu und fragte nach einer Unterkunft für sich und seine beiden Pferde. Immer bot man ihm eine Bleibe an, Essen und Trinken und Futter für die Pferde. In einigen Regionen war die Armut groß, und dennoch teilten die Bewohner ihr Abendessen mit ihm, manchmal verzichteten sie sogar selbst und reichten ihm ihr letztes Brot. Man gab ihm trockene Kleidung, bot ihm das Bett der Kinder an, die woanders schlafen mussten, beschenkte ihn beim Abschied und hätte ihn am liebsten noch ein paar Tage mehr beherbergt. Manche ritten ein Stück mit ihm, um dann wieder heimzukehren. Benjamin selbst war überwältigt von dieser Großzügigkeit. Damit hatte er nicht gerechnet, und hin und wieder schämte er sich, weil er mit so wenig los geritten war. Er hatte nichts dabei, was er hätte abgeben können, auf das er hätte verzichten können.

Diese Menschen lebten aus einer Fülle heraus, die sich materiell nicht messen ließ. Benjamin erfuhr eine Freundlichkeit, die ihn im Innersten bewegte, die ihn selbst veränderte. So beschreibt er es in seinem Buch.


Und dann fiel mir dieser Satz auf.

Uno se siente bastante libre siendo nadie en un lugar”.

“Man fühlt sich ganz schön frei, Niemand an einem Ort zu sein.”

Tagsüber war Benjamin Reynal meistens allein unterwegs. Er vermied asphaltierte Straßen, suchte sich verlassene Wege, galoppierte in den Morgenstunden und ging langsamen Schrittes in die Abenddämmerung hinein. Das waren Stunden des Alleinseins und das jeden Tag. Er war in dieser Zeit nur mit sich selbst. Der Wegesrand bewegte sich langsam, was weiter weg war, schien sich gar nicht zu bewegen. Was er auch entschied, er entschied es nur für sich selbst. Was er auch dachte, er dachte es nur für sich selbst. Und manchmal war die Weite so ergreifend, der Horizont so weit entfernt, dass er sich im Moment selbst auflöste. Er war dann Niemand und er war frei.

An anderer Stelle beschreibt er es so:

“Ich glaube, dass es Situationen im Leben gibt, die dazu bestimmt sind, ausschließlich in der Einsamkeit gelebt zu werden, Momente, die nicht unterbrochen werden sollten... Es gibt erzwungene und traurige Einsamkeiten... aber es gibt eine andere Einsamkeit, die uns stärkt, die uns unabhängig macht, die uns lehrt, für uns selbst verantwortlich zu sein. Eine Einsamkeit, die uns Zeit gibt, gelassen zu sein, uns vom Alltag zu lösen und nachzudenken.”



Ein paar mal geriet Benjamin in gefährliche Situationen, für sich und seine beiden Pferde. Seinen Revolver brauchte er zum Glück nie. Es gab Städte, durch die er hindurch musste, Brücken, die es galt zu überqueren, um schon bald wieder durch freies Feld zu reiten. Der Natur so nahe, wie es ging. In den Zeiten, in denen die Sonne am höchsten stand, Januar und Februar, ritt er morgens immer früher los, um der Hitze des Tages zu entgehen. Bis er sich entschied, die komplette Nacht durchzureiten, und tagsüber auszuruhen. Das brachte ihn weiter.

Kann man langsamer als die Zeit fortschreiten? Vielleicht ist nur Gehen noch langsamer als Reiten. Und wie sollte er die Zeit messen? Wie viele Stunden war er schon unterwegs? Und wie viele Kilometer hatte er zurückgelegt? Und war das wichtig?

Manchmal fragte er nach dem Weg und bekam unterschiedlichste Antworten.

Ein Landbewohner kennt die Entfernung nicht so sehr in Kilometern, sondern die Stunden im Trab oder Galopp, so beobachtet er zunächst dein Pferd und macht, je nach dem wie er es vorfindet, seine Einschätzung. . Das kam mir immer komisch vor, weil es so ähnlich ist, als würde man mir sagen: "Für ihn sind es zwei Stunden, aber für dich, der du dicker bist, sind es drei Stunden". Man fragt nach einer Information und bekommt eine Meinung.

Als Benjamin nach neun Monaten an seinem Anfangspunkt zurückkam, hatte er drei Jahreszeitenwechsel erlebt, war durch fünfzehn Provinzen geritten, hatte fünftausend Kilometer zurückgelegt, Freundschaften geschlossen, war seinen Pferden unendlich dankbar und beherbergte einen inneren Reichtum, eine Fülle, immateriell, die sich nicht messen lassen kann. Diese Erlebnisse sollten nicht verloren gehen. Aber es vergingen über zwanzig Jahre bis er sich entschied, darüber zu schreiben. “La distancia revela”( die Entfernung offenbart es"), schreibt er, wenn er darüber spricht, wie die Distanzen auf ihn gewirkt hatten. Aber auch diese zwanzig Jahre Abstand machen aus dem Text nicht nur eine wunderschöne Beschreibung, nicht nur niedergeschriebene Erinnerungen, nicht nur ein Stück argentinische Geschichte, sondern all dies verwebt sich mit den Reflexionen des Autors von heute zu einer wunderbaren, bewegenden Geschichte.

Beide Bücher “Contra el fuego”, Planeta Verlag und “El tiempo lento”, En Gerundio Verlag sind in der Buchhandlung Cultura in Bariloche erhältlich, aber auch in allen anderen Buchhandlungen des Landes.

Die Fotos stellte mir freundlicherweise Benjamin Reynal zur Verfügung.



















































































Ruben Hidalgo, Bandoneonspieler

Zwei Freundinnen hatten mich aufgefordert, an einem Sonntag Mittag in die Steppe zu fahren, zu einer Lagune, die neben einer alten Bahnstation liegt und wo es eine Parilla gibt, ein Grillrestaurant, indem man Asado essen kann, Fleisch auf einem langsamen Feuer zubereitet. Ich sagte zu, wir fuhren aus der kleinen Stadt heraus und waren schnell im Grenzenlosen, es war windig, trocken und staubig.

Das Grillrestaurant liegt dicht an Bahngleisen, hier kommt einmal in der Woche ein Zug vorbei, der in den Süden fährt. Dann legen Kinder Münzen auf die Schienen, die der Zug platt drückt. Anschliessend verkaufen oder verschenken sie ihre Schätze an die Gäste der Bahnstation, die in dem umgebauten Wartesaal Tee trinken und dazu die leckersten Scones und Torten essen. Wir aber waren zum Mittagessen dort, betraten den großen Speisesaal des Restaurants und nahmen Platz.

Wir waren früh, setzten uns, und ich entdeckte am anderen Ende des Saales eine kleine Bühne mit Mikrofon und Lautsprecher. Es würde Musik geben, dachte ich, und schon fing der Herr an zu spielen. Bandoneonmusik, Klänge, die ich aus den Straßen von Buenos Aires kannte und die mich sofort in eine gute Schwingung versetzten. Ich stand auf, um das was ich hörte, aus der Nähe zu betrachten. Er spielte einen Tango, dann einen Chamamé und wieder einen Tango. Ganz sanft berührte er die weißen Knöpfe an beiden Seiten des Bandoneons, das mit dem rhytmischen Auf- und Zuziehen zu atmen schien. Manchmal waren es lange tiefe Züge, wie ein Seufzer, dann wieder kurze, schnelle. Manchmal spielte er allein, dann wieder begleitete ihn ein Gitarrist und eine junge Frau mit einem modernen knallroten Bandoneon. Oft schaute er seine Zuhörer direkt an, lächelte und seine leuchtenden Augen schauten fröhlich ins Weite, auch wenn seine Musik manchmal traurig war.

In einer kurzen Pause hatte ich Gelegenheit, mit den Musikern zu sprechen und ich verabredete mich zu einem Treffen mit Vanina, der jungen Frau und Ruben, dem Bandoneonspieler.

An einem Abend in der darauffolgenden Woche traf ich die Musiker und Ruben erzählte mir von seinem Bandoneon, seiner Lebensgeschichte und seiner Liebe zur argentinischen Musik.

Er hatte ein dunkelrotes Samttuch mit seinen Initialen über seine Beine gelegt und öffnete ganz allmählich und mit aller Vorsicht einen schwarzen Koffer, nahm das Bandoneon mit beiden Händen heraus und stellte es auf seine Knie. Erste Töne erklangen.

“Am 11. November 1947 schenkte mein Vater mir dieses Bandoneon, da war ich zehn Jahre alt und hatte schon ein paar Stunden Unterricht genommen. Ursprünglich wollte ich Gitarre spielen. Meine Mutter war mit mir zu einer staatlichen Musikschule gegangen, als wir plötzlich auf der Straße durch eine offene Haustür eine Radiostimme hörten. Der Gitarrenkurs war ausgebucht, wurde bekanntgegeben. Wir konnten wieder nach Hause gehen. Dennoch blieb ich bei der Musik und entschied mich für ein Bandoneon, das ich bei einem älteren Nachbarsjungen gesehen hatte. Mein Vater arbeitete bei der Eisenbahn und war selten zu Hause. Aber bei einem seiner Besuche kam er mit einem gebrauchten Bandoneon zurück, das er einem Freund abgekauft hatte. Es ist ein “Doble A”, benannt nach seinem deutschen Hersteller Alfredo Arnold.

Ich lernte Note für Note, Knopf für Knopf, Ton für Ton. Bis ich die ganze Tastatur beherrschte. Als die rechte Hand spielen konnte, übte die linke. Es war nicht einfach, den Balg zu öffnen und zu schließen, ohne auf die Knöpfe zu schauen. Zuerst spielte ich einen Walzer, dann einen Tango, ganz unterschiedliche Rhytmen. Bald schon trat ich gemeinsam mit meinem Lehrer auf Hochzeiten auf. In kurzen Hosen, blauem Jacket und weißem Hemd, immer gut gekleidet. So wurde das Bandoneonspiel meine Lebensform, meine Passion.”

Das erste Bandoneon wurde bereits 1854 in Carlsfeld/Sachsen (Deutschland) hergestellt. Ernst Louis Arnold kaufte die Firma, die sein Sohn Alfred Arnold 1911 übernahm. Das Markenzeichen AA, in Argentinien als “Doble A” bekannt, entstand und wurde in kurzer Zeit weltbekannt. Die Firma stellte Anfang der Dreißiger Jahre jährlich über 600 Bandoneons her und exportierte bis zum Zweiten Weltkrieg den allergrößten Teil der Instrumente nach Buenos Aires. “Doble A” war eine Spezialanfertigung für die Tangospieler Südamerikas, sein scharfer Ton passte nicht zur europäischen Volksmusik. Für die argentinischen Spieler aber war dieser Klang einzigartig. Das Bandoneon mit den zwei geschwungenen A’s verschmolz in Buenos Aires zunächst mit dem Tango, und später mit der Folklore des Landes.

Von Entre Rios zog Ruben Hidalgo nach Buenos Aires, spielte auf Bühnen und fürs Radio. Erste Konzertreisen nach Paraguay, Uruguay und Brasilien machten ihn bekannt. Er konnte von seiner Musik leben, was nicht jedem Bandoneonspieler gelang. Von Jorge Weckesser, einem der bekanntesten Restaurateure und Bandoneonstimmer in den Fünfziger und Sechziger Jahren wusste Ruben, dass es viele Spieler gab, die ihr Instrument nie abgeholt hatten, weil sie die Reparatur nicht bezahlen konnten. Ruben war im Jahre 2018 zum letzten Mal mit seinem Instrument in der Bandoneonwerkstatt in Buenos Aires. “Der Balg ist am empfindlichsten, dieser hier ist noch das Original, musste nur hin und wieder ausgebessert werden”, erzählte er mir. Die sechsundsechzig Knöpfe aus Perlmutt waren alle noch in Ordnung.

“1977 kam ich nach Bariloche. Wäre ich in Buenos Aires geblieben, würden mich vielleicht heute mehr kennen und respektieren und vielleicht meine Kompositionen spielen”, sagte er etwas melancholisch.

Ich kannte bereits einen Teil seiner Stücke, hatte sie in der Steppe oder während eines Besuches bei der jungen Bandoneonspielerin Vaninage hört. “Otoño in Nagaski”, ein Tango, den er auf einem seiner vielen Japanreisen geschrieben hatte, war mir besonders aufgefallen oder der Chamamé “Rio Limay”, dem Fluss, der aus dem Lago Nahuel Huapi fliesst.

Ruben ist sechsundachtzig Jahre alt, und Ehrenbürger der Stadt Bariloche. Seine jüngste Tochter begleitet ihn manchmal mit der Geige, er spielt immer noch alles auswendig und jedesmal leuchten seine Augen, er lacht und freut sich, wenn das Handy klingelt und er wieder einen Auftrag entgegen nimmt, für sich und seinen Gitarristen.


Carol Jones, ein Leben zwischen Anden und Steppe

Ich hatte bereits von Carol Jones gehört, von ihrer Estancia Nahuel Huapi, die auf der anderen Seite des Sees lag, direkt angrenzend an die mir vertraute Estancia Fortín Chacabuco, die ich schon so oft besucht hatte.

Und ich wusste, dass Carol trotz ihres englischen Namens argentinisch ist, Familie hat, dort draussen lebt und arbeitet. Ich sollte sie bald persönlich kennenlernen.

Carol hat zwei erwachsene Kinder, über zwanzig Pferde und lebt am Rande der Anden, zwischen der Cordillere und der trockenen Steppe, zwischen Hügeln und Felsen. Sie liebt ihre Pferde und bietet über Sommer “cabalgatas” an, Ausritte in kleinen Gruppen, halbtags, ganztags oder noch länger, mit Übernachtung in Zelten. Tomas und ich entschieden uns für einem halbtägigen Ritt mit anschliessendem Asado.

Estancia Nahuel Huapi

Um zu ihrer Estancia zu gelangen, mussten wir auf die andere Seite des Sees kommen, durch das Städtchen fahren, immer am Ufer entlang, die Berge hinter uns lassend. In Dina Huapi, einem Ort, in dem sich vor mehr als hundert Jahren dänische Siedler niedergelassen hatten, tranken wir an einer Tankstelle noch einen Kaffee.

Nach weiteren drei Kilometern an orangeblühenden Mohnblumen vorbei, kamen wir an die Stelle, an der der Rio Limay aus dem See Nahuel Huapi entspringt. Da wo der tiefdunkelblaue See überläuft, entsteht ganz unmittelbar ein breiter Fluss mit türkisklarem, sprudelndem Wasser und einer starken Strömung. Meistens stehen an dieser Stelle Fliegenfischer, zum Schwimmen ist es zu gefährlich, aber manchmal sehe ich Raftingboote. Der letzte Winter war lang und schneereich und die Ufer des Flusses standen hoch. Das war gut so.

Hinter der Brücke kamen wir an einer Polizeikontrolle vorbei, dem Übergang der Provinz Rio Negro zur Provinz Neuquén. Noch viele Kilometer dem Fluss entlang bildet er die Grenze zwischen beiden Provinzen. Wir konnten einfach durchfahren. Schaut man kurz nach der Flussüberquerung auf die linke Seite, hat man einen wunderbaren Blick auf Bariloche und die Andenkette dahinter, und bei guter Sicht erkennt man den höchsten Berg der Region, den schneebedeckten Tronador mit seinem argentinischen, chilenischen und internationalen Gipfel. Ich lebe noch nicht so lange in dieser Region, aber immer wenn ich den Tronador sehe, weiss ich , ich bin hier richtig, am anderen Ende der Welt gibt mir der Blick auf diesen Berg ein Gefühl von zu Hause sein, vom Wiedererkennen und Ankommen, vom Ausruhen nach einer langen Reise.

Mein Auge beruhigt sich in der enormen Weite, meine Aufmerksamkeit streift über den See bis zum anderen Ufer, hier gibt es keinen Horizont, keine Linie, über der sich das Schauen im Nichts auflösen kann. Jeder Blick findet etwas. Hinter der glatten Oberfläche des Sees ragen die Berge heraus, über ihnen thront der Himmel. Immer wieder finde ich einen Anhaltspunkt, etwas zu entdecken, eine Kuppe oder ein Schneefeld, eine Felsformation, und manchmal sehe ich Wolken, die aussehen wie Ufos. Dass ich ein Flugzeug am Himmel entdecke, passiert vielleicht alle zwei Wochen.

Dann verschwindet dieses Bild ganz langsam hinter uns und nach einer leichten Anhöhe fahren wir in eine andere, eine fremde Welt, eine karge gelbgrüne Steppe mit rotbraunen, vulkanartigen Felsen, von denen ich später erfuhr, dass sie alle einen Namen haben. Es ist wie das Eintauchen in etwas ganz Neues, Weiches, in etwas Noch nie Erlebtes, in ein weiteres Sein, so als würde man einer Wahrheit oder einem Geheimnis etwas näher rücken.

Ich atme tief durch, gebe Gas, öffne das Fenster und frage Tomas, ob ihm nicht auch die Landschaft, die Luft und der Himmel noch trockener und klarer und zum Anfassen schön erschienen.

Nachdem wir links in Richtung Villa La Angostura abgebogen waren, mussten wir gut aufpassen, um die Einfahrt zur Estancia am rechten Wegesrand nicht zu verpassen. Wir hatten Glück und standen kurz danach vor einem Holzgatter. Tomas stieg aus, öffnete es, ich fuhr hindurch und bevor er einstieg, schloss er es wieder. Kurz hinter dem Tor begrüßte uns am Wegesrand wie eine Wächterin, eine ausgetrocknete Köngskerze (Verbascum). Die senkrecht in die Luft wachsende Blume erhielt ihren Namen, weil man sie früher mit Wachs übergossen als Fackeln benutzt hatte. In Europa steht sie unter Naturschutz.

Der Weg wurde immer holpriger, die Furchen immer tiefer, aber bald schon sahen wir ein kleines Holzhaus und die Pferdekoppeln. Wir stellten das Auto in den Schatten, unter einen Baum, stiegen aus und Carol kam mit einem Strahlen in ihren Augen auf uns zu.

“Bienvenidos a la Estancia Nahuel Huapi”, begrüßte sie uns mit einem Kuss auf beide Wangen. Ich schaute mich um und erinnerte mich daran, was ich ein paar Tage zuvor über diese Gegend und die Estancia gelesen hatte.

Carols Großvater, Jarred Augustus Jones, geboren 1863 in Texas, Nordamerika, hatte seine Heimat als junger Mann verlassen und war südwärts gezogen, um 1884 in Buenos Aires anzukommen. Dort traf er auf Gleichgesinnte, Cowboys aus Nordamerika, die nach Aufträgen suchten, um in Patagonien ihr Glück zu versuchen. Zunächst verschlug es ihn auf die Estancia Leleque in Chubut, in dessen Auftrag er riesige Rinderherden von Patagones, im Süden der Provinz von Buenos Aires, nach Nordpatagonien brachte. So lernte er die Gegend um den Lago Nahuel Huapi kennen und entschied sich, dort zu bleiben. Anfangs nahm er Aufträge auf den schon bestehenden Estancias an, arbeitete für englische Unternehmen, aber bald schon machte er sich selbstständig. Als die argentinische Regierung 1884 die zuvor von den Ureinwohnern eroberten Ländereien anboten, um sie zu bewirtschaften, gründete Jarred Jones eine Estancia mit 10.000 Hektar an den Ufern des Lago Nahuel Huapi.

Doch nun stand Carol vor mir, seine Enkelin, mit ihren dunklen Haaren, die sie zu einem langen Zopf nach hinten geflochten hatte. Sie strahlte über ihr braungebranntes Gesicht, ihre tiefen Gesichtszüge und die vielen kleinen Grübchen sprachen von einem windgepeitschten Leben unter freiem Himmel, anstrengend und aufregend, verzaubernd und vielleicht manchmal auch einsam, aber frei gewählt und bewusst entschieden. Über ihrer langärmeligen Bluse trug sie eine helle Weste und ein Halstuch, dazu eine dunkelblaue Hose und feste Lederschuhe.

Als sie zur Seite schaute, entdeckte ich kleine Federn, die in einem Band an ihren Hut steckten und ich erkannte, dass sie einen “Lagomarsino” trug, ein in Argentinien ganz bekannter Hut, den schon der Tangosänger Carlos Gardel und viele andere bekannte Persönlichkeiten getragen hatten.

Auch Matthias und Tomas trugen ihn, als sie als Kinder mit Martín zehn Tage durch die Anden ritten, auf 4000 Metern Höhe, auf den Spuren von General San Martín, der mit seinem Heer auf diesem Pfad nach Chile gezogen war, um die Chilenen von den Spaniern zu befreien.

Der Hut schützte sie vor der extremen Sonneneinstrahlung und bei starkem Wind gab es einen Lederriemen, der ihn am Kopf festhielt. Jetzt liegen die beiden Hüte auf einem Regal in ihrer Düsseldorfer Wohnung.

Als ich im letzten Jahr auf meiner Rückreise von Deutschland nach Bariloche einen Tag durch Buenos Aires streifte, fiel mir eine offenstehende Eingangstür einer brächtigen Stadtvilla auf. Ich trat ein und wurde sofort von einer freundlichen, jungen Frau angesprochen, die mir sagte, dass die öffentliche Führung erst am Nachmittag sei. Das machte mich neugierig und sie bot mir eine kleine Privatführung durch das Haus an.

Zufällig war ich im damaligen Privathaus von Carlos Lagomarsino gelandet, der im Jahr 1891 zusammen mit seinem Bruder eine Hutfirma gegründet und sie schon nach wenigen Jahren zu internationalem Erfolg geführt hatte. Bis in die Vierziger Jahre hinein trugen Männer in Buenos Aires zu jeder Gelegenheit diesen Hut, anfangs aus Filz, später aus verschiedenen anderen Materialien.

Die junge Frau aus der Provinz San Luis erzählte weiter.

Carlos Lagomarsino gründete schon bald nach seiner Ankunft in Buenos Aires einen Pizzastand auf der Straße. Ein Angestellter packte die Pizzas ein und nahm das Geld entgegen. Jedoch beschwerten sich bald die Kunden über die schwarzen Finger des Verkäufers und er musste seinem Chef erklären, dass er in seiner freien Zeit Hüte herstellte, Filzhüte. Carlos Lagomarsino liess sich das Handwerk zeigen, war begeistert und gründete das bis heute in Buenos Aires bestehende Unternehmen.

In seiner prachtvollen im Jahre 1920 erbauten Villa lebte er aber selbst nur vier Jahre. Er starb früh, hinterließ aber eine Frau und vier Kinder, die das Haus an einen Arzt verkauften. Die Firma “Lagomarsino” ist bis heute über Argentinien hinaus bekannt.

Die Pferde waren gesattelt, die anderen Reiter eingetroffen, wir konnten starten. Jarred, Carols Sohn, und ein junger Amerikaner begleiteten uns. Ich reite nicht oft, vertraue darauf, dass die Pferde mich tragen, dass sie nicht wild davon galoppieren und mich nicht abwerfen. Wir ritten durch eine Ebene, ein paar Reiter waren vor mir, als ich plötzlich sah, wie Tomas mit seinem Pferd über einen Bach sprang. “Was wird mein Pferd machen?”, war mein erster Gedanke, aber lange konnte ich nicht darüber nachdenken, da schritt mein Pferd schon ganz behaglich durch das Wasser, hielt an, löschte seinen Durst und ging weiter. Ich war beruhigt.

Am Anfang versuchte jeder noch mit jedem zu sprechen. Da war das Pärchen aus New York, die auf Hochzeitsreise waren und die vierköpfige Familie aus Bath, die genau wie ich nicht jeden Tag auf dem Rücken eines Pferdes sitzen. Doch nach einer Stunde wurde es stiller und stiller, hin und wieder scheuchten wir einen Hasen auf, durch die Büsche sahen wir Rehe grasen und über uns kreiste eine Weile ein Condor. Die Andenkette lag hinter uns, die Weite der Steppe vor uns.

“The color of that distance is the color of an emotion, the color of solitude and of desire, the color of there seen from here, the color of where you are not. And the
color of where you can never go.”

Solnit, Rebecca. A Field Guide to Getting Lost

Nach über zwei Stunden kehrten wir zurück und freuten uns alle auf ein gemeinsames Essen im Freien. Carol hatte mit ihrer Tochter das Asado zubereitet. Es gab Wasser und Wein, zum Nachtisch Obst und Kuchen.

Und später, als die anderen Reiter schon wieder abgefahren waren und Tomas sich für eine Siesta im Schatten entschied, setzten sich Carol neben mich, bereitete einen Mate zu und fing an zu erzählen.

“Die ersten Cabalgatas haben wir im Jahr 1987 angeboten. Zuvor wollten Durchreisende nur Pferde mieten, um selbst in die Umgebung zu reiten, aber ich wollte meine Pferde nicht einfach so an wildfremde Menschen abgeben. Also riet mir meine Mutter die Gruppen zu begleiten. Ja, ich glaube, ich war bei den ersten, die Cabalgatas in der Gegend angeboten haben. Zumindest die langen Pferderitte bis zu zehn Tagen. Wir ritten bis zu acht oder neun Stunden am Tag, so war ich es von klein auf gewohnt, machten abends ein Feuer, übernachteten in Zelten, und hatten an Proviant Fleisch, Brot und Mate dabei, manchmal ein paar Äpfel. Jeden Tag, Fleisch, Brot und Mate, das war alles. Die Menschen waren beeindruckt, tauchten tief ein in diese Erfahrung, saugten ihre Umgebung auf, anders als heute, wo die Touristen höchstens ein oder zwei Nächte buchen, am liebsten aber Tagesritte wollen. Heute möchten sie mehr wissen, als erfahren. “Wie groß ist die Estancia, wie lange lebst du schon hier?”. Die Menschen interessieren sich mehr für Zahlen, selten fragt mal jemand nach einem Baum oder Vogel. Das war anders.

Im Sommer arbeitete ich hier in Bariloche und im hiesigen Winter in den USA, in Wyoming, auf einer Gästeranch. Dort lernte ich dann auch, wie ich es hier besser machen konnte. Ich reduzierte die Stunden auf dem Pferd auf maximal fünf Stunden täglich, verbesserte den Proviant, es gab mehr Obst, Sandwiches, Getränke und Kaffee. Die Leute waren zufrieden. Und wir auch.

“Wann hast du angefangen zu reiten"?

“Ich glaube ich war fünf Jahre alt. Wir ritten nicht einfach so, das Pferd war immer ein Transportmittel. Wir mussten zu den Rindern auf der Weide, Zäune reparieren oder neue aufbauen. Die Landarbeiter nahmen mich mit und mein Vater sagte mir jedesmal: ”Sei keine Last für sie, sie sollen ihre Arbeit tun”.

Also verhielt ich mich ruhig, beschwerte mich nicht, war am Abend so erschöpft, dass ich kurz vorm Einschlafen dachte, nie wieder, warum. Das mache ich nie wieder.

Und dann, ein paar Tage später saß ich schon ganz früh morgens wieder auf dem Pferd und war ritt mit hinaus”.

Und deine Mutter, wie lebte sie?


Meine Mutter wusste alles über Pferde, sie liebte die Natur, kannte alle Gebirge, Seen und Flüsse des Landes, aber sie ging nie in die Berge, vielleicht saß sie zweimal auf einem Pferd. Sie ist in Bahia Blanca an der Atlantikküste aufgewachsen, kam als junges Mädchen nach Buenos Aires und verlor sehr früh, mit zwanzig Jahren beide Eltern. Als der Bruder zum Militär musste, wollte sie auf keinen Fall allein in der Großstadt bleiben und zog zu einer Freundin nach Bariloche. Sie wurde Lehrerin und später Direktorin einer Privatschule in Bariloche. Für sie war eine gute Erziehung wichtig. Also nahm sie uns mit nach Buenos Aires, zeigte uns das Teatro Colon, die Museen und die Parks. Ich war als Kind beeindruckt, das hat mir gefallen, ich reise gerne, aber von hier würde ich nie weggehen.

“Und deine Großmutter, mit ihr begann hier doch alles?”

“Ja, sie war eine außergewöhnliche Frau, kam aus der Schweiz, sprach sogar noch schwytzerdütsch.

Sie machte alles selbst, es gab nichts, sie musste alles selbst machen. Käse, Brot, Marmeladen. Ich erinnere mich an ihre leckeren Plätzchen, die sie immer in einer Metalldose aufbewahrte.

Und sie strickte, denn es gab ja nichts zu kaufen. Sie strickte die Pullover für ihre sechs Kinder, wusste ganz genau, wer wo am Pullover eine, wer zwei Taschen haben wollte. Sie strickte die Socken und langen Unterhosen und hatte einen Gemüsegarten. Anfangs lebten sie am Rio Limay, später in einem großen, modernen Haus in der Steppe.

Der Damensattel ist ein Geschenk von Rosa Schumacher, Ehefrau von Emilio Frey.

Mein Großvater war ein Visionär. Er hatte die ersten Autos, eine Zentralheizung in seinem eigenen Haus, war ein guter Geschäftsmann und Handwerker, Farmer und Züchter. Er betrieb die erste Fähre über den Rio Limay, entwickelte an genau dieser zentralen Stelle ein kleines Wirtschaftszentrum mit einem Warenlager, einer Schreinerei und einer Poststelle.

Noch heute steht dort ein Haus, “El Boliche viejo”, was einst ein Geschäft, später ein Lager und dann für ein paar Jahre meine Keramikwerkstatt war. Jetzt betreibt ein Mieter dort ein Restaurant. “

Ich hörte so gerne zu und es tat mir gut, dass die Menschen sich hier in Argentinien Zeit nehmen, ihre Geschichten zu erzählen. Ich trete dann selbst aus unserer schnelllebigen Zeit heraus und schaue hin in ein anderes vergangenes Leben. Ein Leben vom Entferntsein des eigenen Ursprungs, auf der Suche nach einem Ort, um neue Wurzeln zu schlagen, um sich da niederzulassen, wo nur wenige lebten, wo es nur wenig gab. Viele erzählen hier Geschichten vom Auswandern, vom sich Einlassen auf eine rauhe Natur, von Existenzkämpfen, Erfolgen und Stürmen, Verlusten, Visionen und Verzweifeln.

Sie waren die ersten. Die erste Lehrerin, der erste Schmied, die erste Fotografin oder die erste Klavierspielerin. Der erste Arzt. Die erste Telefonleitung wurde gelegt und irgendjemand hatte das erste Radio.

Und Carol war die erste die in den Achtziger Jahren Cabalgatas anbot. Diesen Pioniergeist hat sie sich bis heute bewahrt. Wir hatten längst den kleinen Raum mit den großen Glasfenstern verlassen, standen in einer duftenden Wiese mit Kamillenblüten und Jarred, ihr Sohn, kam zu uns. Im karierten Flanellhemd und mit Cowboyhut war er dabei, eine Schafshaut zu waschen, wollte sie trocknen und gerben, um sich später Taschen zu nähen.

Die Schatten waren länger geworden, es ging ein leichter Wind und es war Zeit, sich zu verabschieden. Tomas kam hinzu, wir verabschiedeten uns, stiegen in unser Auto und machten uns auf den Heimweg.

Auf der Pferdekoppel standen unsere Pferde, ruhten sich aus und knabberten ganz vorsichtig an einer Mariendistel. Sie bissen nur die violett leuchtenden Blüten ab, denn Stil und Blätter waren viel zu stachelig.

Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden. Und ich spürte, dass es eine Sehnsucht gibt, die nicht aufgelöst werden muss. Ich schaute über den See und dachte:

Etwas ist immer weit entfernt.



















Die Erde im Bild - Ulrike Arnold

“Felsen, Sand, Steine, Staub bearbeite ich, extrahiere die Essenz, zermalme mit Hammer, Spachtel, Mörser und meinen Händen das Material, kratze, streue und mixe. Feine Körner rinnen durch meine Finger. Mit Wasser und Bindemittel werden sie zu Farben, die meine Bilder gestalten. Tagelang bin ich dort draußen, erlebe die knallende Sonne, den Wind, die kalten Nächte, suche das Alleinsein und spüre die Eigenart des Ortes. Das Bild entsteht unter freiem Himmel aus mir heraus, in Verbindung mit der Erde. Es wird zum Gedächtnis des Ortes, es ist der gespeicherte Moment, bestehend aus dem Jahrtausende alten Material, das auf einen Nesseltuch eine neue Form erhält.”

Ulrike Arnold, Düsseldorf Juni 2023.

Ich traf Ulrike Arnold zum ersten Mal in ihrem Atelier in der Altstadt von Düsseldorf. An einem heißen Sommertag trat ich in einen kleinen Hinterhof, stehe vor einem roten Backsteingebäude, schaue hinauf, sehe die großen Fenster verschiedener Künstlerateliers. Im Treppenhaus spüre ich die angenehme Kühle der alten Gemäuer. Nach drei Stockwerken steht Ulrike Arnold vor mir, strahlt und umarmt mich zur Begrüßung. “Wasser, Kaffee oder beides?”, fragt sie mich. Wir gehen durch eine kleine Küche und treten in einen großen, hohen Raum. Ich stehe an einem langen Tisch, umgeben von Ulrikes erdigen Bildern, groß, körnig, bewegend, ockern und rostbraun mit grünen und türkisfarbenen Schimmern.

Weite felsige Landschaften treten vor mein inneres Auge. Ich spüre den trockenen Wind, eine Klarheit in der Luft und die eigene Abenteuerlust, die mich selbst an ähnliche Orte gebracht hatte. Diese Farben kenne ich von Reisen in den Norden Argentiniens und von meinen endlosen Wanderungen durch enge Schluchten und Täler, durch eine Weite, die mir Patagonien bescherte.

Ulrike spielt ein paar Klänge auf ihrem Klavier, so kann ich in Ruhe ankommen und mich umschauen. Mein Blick fällt auf dünne, trockene Erdschichten auf Nessel, aus verschiedenen Orten dieses Planeten, räumliche Momente, gespeicherte Energie von Plätzen aus unterschiedlichen Kontinenten, stark, verletzlich, feinhäutig und doch erhaben.

Bilder von allen fünf Kontinenten, die miteinander in Beziehung treten, sich untereinander von ihrem Dasein erzählen, strahlen aus, dass es eine ist, unsere Erde.

Wir suchen den kühlsten Ort in ihren Räumen, trinken einen Espresso und genießen eine zitronige Leckerei. Ulrike erzählt:

Die Erde war immer Gegenstand meiner Malerei. Ich male nur draußen, verbringe Tage und Nächte unter freiem Himmel, erlebe das Licht, den Wind, die Kälte, die Tiere, meine Angst und meine Freude. Mit dem Moment eins und die Weite des Horizontes im Blick, spüre ich mich selbst und möchte die Essenz des Ortes festhalten. Manchmal singe, tanze und fühle ich die Erdverbundenheit, werde zu einem Teil des Ganzen. So finde ich für einen Augenblick meinen Platz im Universum”.

Irgendwann hat Ulrike ihren Blick in den Himmel gerichtet und begonnen, mit Meteoritenstaub zu malen. Brocken, Steine, Gries aus dem All, Kometen, die Millionen Kilometer durch den Kosmos geflogen sind, aus fremden Galaxien kommend durch das Hitzeschild in die Erdatmosphäre gedrungen und auf die Erde gefallen sind, finden auf ihren Nesselstoffen eine neue Form.

Wer sind wir beim Betrachten dieses Stoffes, der nicht von dieser Erde ist?

Und dann gibt es noch ein Bild von ihr, dass mit Farben von allen Erdteilen entstanden ist. Ulrike nennt es das “One World Painting”. Es ist riesig und besteht aus zwei Teilen. Legt man sie auf den Boden, sieht man, dass es ein Ausrufungszeichen ist.

“Achte auf mich”, könnte die Botschaft heissen.

Über das Wasser in Patagonien oder Schwimmen in offenen Gewässern

Es ist weich, seidig, kristallklar, farblos, blau oder türkis. Bei Windstille bewegungslos und glatt. Es kann die umliegende Landschaft widerspiegeln. Gletscher tauen, bilden Flüsse, die fallen in die Tiefe, das Wasser fließt weiter und endet zunächst einmal in einem See. Dann gibt es eine Stelle, an der das Wasser übertritt und wieder einen Fluss bildet. So wie der Rio Limay, der aus dem Lago Nahuel Huapi entspringt. Diese Flüsse durchqueren Argentinien und münden in den Atlantik.

Die Seen in Patagonien sind so riesig, man findet die Berge bis zur Spitze in ihnen wieder. Eine überwältigende doppelte Schönheit liegt vor mir, und ich schwimme direkt da hinein. Ihre Tiefe kann erschrecken. Schwimmer haben mir erzählt, dass ihnen schwindelig wird, wenn sie durch ihre Schwimmbrille unter sich schauen, während sie an der Wasseroberfläche hinüberschwimmen über einen Abgrund, den sie als bedrohlich empfinden. Diese Tiefe ist nie schwarz, sie wird immer dunkelblauer, je weiter sich das Licht in ihr auflöst.

Lago Falkner

Lago Mascardi

Lago Mascardi

Vielleicht gehöre ich nicht zu dieser Erde, aber zu diesem Wasser bestimmt.

Patagoniens Seen sind unbeschreiblich riesig. Gletscherseen, mit einer Tiefe bis zu 600 Metern, auf einer Höhe von beispielsweise fast 800 Metern, so wie der Lago Nahuel Huapi, der den Valdivianischen Regenwald mit der Steppe verbindet. Es sind so viele, so groß und so schön. Manche befinden sich auf beiden Seiten der Grenze zwischen Argentinien und Chile und haben zwei verschiedene Namen. Schneebedeckte Berge umgeben Wasserflächen, die im Sonnenlicht wie ein Silbertablett erscheinen.

Lago Nahuel Huapi

Das Wasser ist mineralarm und hat gegen Ende des Sommers eine Temperatur zwischen 12 und 15 Grad. Ich kann jederzeit hinein tauchen, im Badeanzug, für eine kurze Zeit, ungefähr fünf Minuten. Wenn ich richtig schwimmen möchte, habe ich einen Neoprenanzug mit kurzen Ärmeln und Beinen für den Sommer. Wird es kälter, tausche ich ihn ein gegen einen dickeren, der meinen Körper vollständig bedeckt. Eine gute Badekappe sorgt dafür, dass die Haare nicht nass werden. Im Frühling, wenn das Wasser noch viel kälter ist, während der Schneeschmelze, trage ich manchmal Pulswärmer, die ich mir von einem alten Neoprenanzug abgeschnitten habe. An den Handgelenken friere ich so sehr, dass es schmerzt. Mir diesem Schutz kann ich länger im Wasser bleiben.

Die ersten Züge sind noch ein bisschen hektisch. Meine Haut berührt den See, die Kälte des Wassers dringt in mich hinein, die Augen, die Ohren, ja sogar die Zähne im Mund kühlen ab, manchmal tut es weh. Atmen hilft. Gleichmäßig atmen und sich gleichmäßig bewegen. Allmählich dringt Wasser durch den Neoprenanzug. Kleine Rinnsale fließen über die Haut und erwärmen sich. Es ist die Wärme meines eigenen Körpers, die sich zwischen Haut und Neopren breit macht und bleibt. Das fühlt sich gut an. Ich komme vorwärts. Ich schaue bis in die tiefe Dunkelheit des Sees. Aber auch nach oben. Den Blick in den Himmel kenne ich besser. Mir ist warm.

Am Ufer suche ich mir Orientierungspunkte, damit ich meine Richtung beibehalte, nicht zu weit hinausschwimme, um dann rechtzeitig umzudrehen. Beim Kraulen ist es wichtig, dass man von zwei Seiten Luft holen kann, denn schon der kleinste Wellengang kann dazu führen, dass man Wasser schluckt. Es ist sauber, das Wasser. Ich schwimme weiter.

Ich bin allein im Wasser. Und diese tiefe Erfahrung des Alleinseins verwandelt sich in etwas Ganzheitliches. So ganz wie ich mich selbst spüre, spüre ich das Wasser, die Sonnenstrahlen, die um mich herum eintauchen, die prickelnden Bläschen unter Wasser, den Wind beim Auftauchen im Gesicht und meinen Herzschlag. Was ich aber am stärksten spüre, was aus meiner eigenen Tiefe kommt und sich über meinen Körper hinaus ausbreitet, ist dichte Wärme, eine so wohltuende trockene Wärme, die ich selber bin, das bin ich selbst.

Ich schwimme und schwimme, Arme und Beine bewegen sich von allein, Gedanken lösen sich auf, der Körper schwimmt in Leichtigkeit hinein. Der See hat mich aufgenommen, trägt mich ein kleines Stück, eine kleine Strecke im Vergleich zu seiner immensen Größe. Wenn ich meinen Kopf aus dem Wasser tauche und Richtung Sonne schwimme, sehe ich funkelnde Sterne auf dem Wasser, das reflektierende Sonnenlicht tanzt auf einer blauen seidenen Oberfläche, kleine sich brechende Wellen haben eine leuchtend weiße Schaumkrone. Und ich bin mittendrin.

Die Wärme bleibt, solange es mir im Wasser gut geht. Ich schwimme zurück, bevor es mir kalt wird. Ich suche das Ufer, spüre bald den Grund unter meinen Füßen und gehe die letzten Schritte bis zu meinen Sachen. Wenn ich dann in meine Kleider steige, am besten in Wollsocken und einen Wollpullover, dann spüre ich noch eine ganze Weile meine eigene Wärme, wie sie sich in mir ausbreitet und mir gut tut. Ich schaue noch einmal auf den See, dann gehe ich nach Hause.

Lago Nahuel Huapi, Bahia Lopez

Viele meiner Wanderungen gehen erst einmal an Flüssen und Bächen entlang, manchmal an Wasserfällen vorbei in die Höhe zu Lagunen oder Gletschern. Beim Gehen halte ich Ausschau nach Stellen, in denen man ins Wasser steigen kann, einfach so, nur kurz eintauchen und abkühlen und wieder raus. Bäche bilden kleine Bassins, und da wo die Strömung nicht zu stark ist, gehe ich einfach mit.

Einer der Gletscher des Tronadors, Pampa Linda

Wasserfall in der Pampa Linda

“Wir ließen uns mit der Strömung flussabwärts treiben….Später stand ich noch eine Weile am Wasser. Wenn genau vor mir, im vorbeifließenden Wasser, die Gegenwart ist, kann der Fluss dann meine Vergangenheit mitnehmen? Oder ist es die Zukunft, in die er fliesst? Und woher kommt er? Liegt die Vergangenheit flussaufwärts Richtung Quelle? Kann meine eigene Vergangenheit an mir vorbeifließen?”

Rio Caleufú, el paso del Cordoba

Verbindungsfluss zwischen Lago Filo Hua Hum und Lago Nuevo, in der Nähe von San Martin de los Andes

Eintauchen in eiskaltes Wasser geht auch im Herbst und im Winter. Es ist immer erfrischend und belebt die Seele. Warme Kleidung und ein guter heißer Tee nach dem Bad gehören dazu und wenn ich dann noch eine warme Stube habe, bin ich glücklich.

Arroyo Casa de piedra auf dem Weg zum Refugio Jacob, Bariloche

Carlota Thumann

Eine junge Frau sitzt auf dem Sonnendeck eines Überseedampfers und liest ein Buch. Allein. Die Liegestühle neben ihr sind leer. In ihrer hellen, kurzärmeligen Bluse, dem dunklen, langen Faltenrock und ihren weißen Söckchen wirkt sie zufrieden. Ein warmer, windstiller, wolkenloser Tag. Vielleicht hatte das Schiff den Äquator längt passiert und war schon im südlichen Sommer angekommen. Diese junge Frau war keine Touristin, sie war nicht auf einer Reise, von der man zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Diese Frau hatte Deutschland verlassen, um einer Einladung eines Brieffreundes nach Paraguay zu folgen. In einem ihr unbekannten Südamerika wartete er auf sie. Ein paar Koffer für sich selbst und eine riesige Kiste für die Familie ihres Gastgebers Heinz Thumann hatte sie im Gepäck. Vielleicht war das Buch, das sie las, ein Sprachführer.

Lotte Fröhlich oder Carlota Thumann, wie sie später heißen wird, war in diesem Moment zwanzig, unabhängig und abenteuerlich. Das Schiff war auf dem Weg nach Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, am Rio de la Plata. Es ist das Jahr 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Hatten ihre Eltern in Köln die junge Frau deshalb einfach so gehen lassen? Hatten sie ihr ein besseres Leben bescheren wollen?

Heinz Thumann lebte als Auswanderer in Paraguay. Über den Briefwechsel einer Freundin hatte er von Lotte erfahren und sie kurzerhand eingeladen. Damit verknüpft war seine Hoffnung, dass Lotte ihn vielleicht heiraten würde. Aber aus Heinz wurde Hans, denn Lotte verliebte sich in seinen Bruder. Sie heirateten und ließen sich in der Nähe von Asunción nieder. Hans verdiente nicht viel, Lotte nähte Kleider, besorgte die Lebensmittel, schreinerte die Wiege, als die Kinder geboren wurden und kämpfte im subtropischen Klima gegen die Moskitos. Sie hängte Fenster zu und bedeckte die Kinderbettchen mit dünnen Tüchern und konnte dennoch nicht verhindern, dass einer ihrer Söhne und der Ehemann an Malaria erkrankten. Im Dschungel südlich von Asunción gab es keine Ärzte und keine Medikamente. Nur eine ganz genau dosierte Chiningabe entschied über Leben und Tod, Lotte war vorsichtig und zuversichtlich. Sie schaffte es und rettete so beiden das Leben.

Ein Umzug nach Misiones, in Nordargentinien folgte, zwei weitere Kinder kamen zur Welt. An den Gefahren des subtropischen Klimas und den damit verbundenen Anstrengungen hatte sich auch dort nichts geändert. Deswegen machte sich die Familie auf die Suche nach einer freundlicheren Umgebung. So reiste Hans Thumann im Jahre 1948 nach San Martín de los Andes, einem damals kleinen Ort in den Anden Nordpatagoniens. Carlota erinnerte sich immer gern an den Moment, in dem sie von einem LKW aus auf den kleinen Ort hinabschaute, es fehlten nur noch ein paar Kilometer, und vor Freude dachte, da unten irgendwo steht unser kleines Häuschen, unser neues Zuhause für unsere ganze Familie. Das war am 4. November 1949. Sie war mit zwei ihrer Kinder, mit Gerhard und Elmar, angekommen. Später kam Hans mit den beiden anderen Kindern nach.

San Martin de los Andes (Carlota Thumann)

San Martín de los Andes (Carlota Thumann)

San Martín de los Andes hatte bereits die ersten Skipisten, Touristen aus der Hauptstadt besuchten gerne den Ort. Hans gründete ein Fotogschäft, Carlota führte den Haushalt, half aber in der Nacht, Filme zu entwickeln. So entdeckte sie ihre Liebe zur Fotografie.

Ihr Haus mit dem Fotostudio steht heute noch in dem Städtchen und an einer weißübertünchten Wand sieht man, wenn man ganz genau hinschaut, in großen Lettern geschrieben. “Foto Thumann”.

Bald begann auch Carlota mit der Auftragsfotografie für Passfotos, Hochzeiten, Schulfeste, Taufen und andere Feierlichkeiten, sogar für Beerdigungen fotografierte sie. Der Friedhof der Stadt lag etwas weiter oberhalb in der gleichen Straße. Und immer wenn der Beerdigungszug an ihrem Fotostudio vorbeizog, hielt er an, Carlota trat aus dem Haus, der Sarg wurde geöffnet und ein letztes Foto entstand. Der anliegende Stadtpark diente oft als Außenkulisse für Fotos und schon bald zog Carlota allein, mit ihrem Hund oder mit Freunden in die umliegenden Wälder und hinauf in die Berge, die Kamera hatte sie immer dabei.

wilde Fuchsien

In San Martín de los Andes fühlte sich Carlota wohl. Rasch beteiligte sie sich am sozialen Leben des Städtchens, sang, tanzte und lachte. Aus dem Fotostudio wurde ein Fotogeschäft. Die Thumanns verkauften Fotoapparate an Touristen, und wer sich diese Anschaffung nicht leisten konnte, kaufte sich Filme, um sich von anderen fotografieren zu lassen. Das beste Geschäft machten sie im Winter, wenn Besucher aus dem Norden kamen, die noch nie Schnee gesehen hatten und sich in der weißen Schönheit fotografieren ließen.

Hans verließ Lotte und zog mit einer anderen Frau nach Junin de los Andes, überließ ihr aber das Geschäft, die nun ihre vier Kinder allein erziehen musste. Weit weg von größeren Städten, war Lotte darauf angewiesen, vieles selbst zu bewerkstelligen. Weiterhin nähte sie die Kleider ihrer Kinder selbst, kochte, kümmerte sich um die Hausaufgaben und stand im Fotogeschäft, um die Familie über Wasser zu halten. Sie hörte Radio, las Zeitung und war immer informiert.

Mit Carlotas aufmerksamen und ruhigen Betrachten in die ihr immer vertrautere Welt Nordpatagoniens, mit ihren Menschen im Ort, den Tieren, Pflanzen, dem See und dem Himmel blickt in diesem Teil der Welt zum ersten Mal eine Frau durch die Kamera und hält Szenen für uns fest. Sie entscheidet, was ihr wichtig ist und was wir heute sehen sollen. Das Licht Patagoniens hilft ihr dabei, das Plastische, Reale, Dynamische und manchmal auch Mysthische ihrer Umgebung einzufangen, sowie hier am Lago Lacar, dem See von San Martín de los Andes.

Im Jahr 1960, an einem sonnigen und windstillen Tag bestieg sie mit Freunden und ihrem Sohn Dietrich den bekanntesten Vulkan Argentiniens, den Lanín. Majestätisch thront er an der Grenze zu Chile und was aus der Entfernung so lieblich aussieht, ist eine rauhe, wilde, windige Gegend, auch heute noch.

Vulkan Lanín

Carlotas Fotos, zum größten Teil in Form von Negativen im Besitz ihrer Kinder, sind nicht nur ein Dokument ihrer Zeit und wichtig für die Geschichte Argentiniens, es gilt auch, einen Blick auf ihr künstlerisches Können zu werfen. Noch sind die über tausend Negative nicht digiltalisiert, sortiert und ausgewertet.

Hin und wieder entdeckt man in Fotobänden, Biographien oder Beschreibungen aus der Vergangenheit San Martín de los Andes Fotos von Carlota Thumann, einer Pionierin in ihrem Handwerk.

Ihr Sohn Gerhard hat die Fotografie von ihr gelernt und übernommen. Für eine Weile kehrte er in die Geburtsstadt seiner Mutter zurück, um in einem Kölner Fotostudio “Foto Stein” zu arbeiten. Für Agfa Gevaert sollte er Repräsentant in Argentinien werden, doch dann hätte er in Buenos Aires leben müssen. Er kehrte bald schon wieder zurück nach San Martín de los Andes. Carlota selbst besuchte ihre Familie in Deutschland einige Male. Im Jahre 1984 folgte sie einer Einladung der internationalen Fotoausstellung “Photokina” nach Köln. Drei Jahre später besuchte sie zum letzten Mal ihre Familie.

Carlota sitzt auf einem Stein, sie trägt einen selbstgestrickten Wollpullover mit Norwegermuster, eine dunkle, enganliegende Hose und Bergschuhe. Ein makellos weißer Kragen ragt aus dem Ausschnitt ihres Pullovers hervor. Carlota trug gerne Blusen, zu jeder Gelegenheit und zu jeder Jahreszeit. In einer Hand hält sie ihre Kamera, mit der anderen stützt sie ihren Kopf, der Ellebogen ruht auf dem Knie des angewinkelten Beines. Sie schaut in die Ferne, fast träumend, dennoch mit einem klaren Blick. Im Hintergrund ein sanftes Tal, noch schneebedeckt, dahinter dunkle Hügel, dahinter der Lago Lacar, hinter dessen Ufer sich die Andenkette erhebt. Sie sitzt am Rande des Weges zum Cerro Chapelco, dem heutigen Skigebiet der Region. Diese Berge, den See und die Wälder hat sie immer geliebt, hier fühlte sie sich zu Hause. Hier starb sie 2009 im Alter von 92 Jahren.

Heute gilt es ihre Arbeiten genau zu betrachten, in ihrem historischen Kontext zu bewerten und über Argentinien hinaus zu veröffentlichen.

Dank der intenisven und ausführlichen Recherchen der argentinischen Historikerin Ana Maria de Mena, Biografin Carlota Thumanns, liegen Aufsätze und Interviews in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in Spanischer Sprache vor. Susana Schier, Carlota Thumanns Schwiegertochter, arbeitet an der Digitalisierung und Kategorisierung der großen Vielzahl der Negative. Ihr gilt auch der Dank für die Veröffentlichung der Fotos in diesem Blogbeitrag.

Vom allein Unterwegs sein

Warum Patagonien?” “Weil man an keinem anderen Ort, so vollständig allein ist”.

Florence Dixie, 1878

Ich kann allein in die Berge gehen, bis zu den Gipfeln, mit mir selbst sein, mit dem Fels, dem Gebirgsbach, dem Horizont und meinen eigenen Gedanken, die immer weniger werden, je länger ich gehe. Ich schaue den Condoren zu, den Wasserfällen und entdecke Blumen, die ich noch nicht kenne. Ich bin stundenlang unterwegs. Ich gehe und gehe und gehe, meistens ist da ein Ziel. Rund um Bariloche sind es die Hütten zum Übernachten. Oft erreiche ich sie schon am Nachmittag. Dann empfängt mich dort jemand, spricht, fragt mich, wie es mir geht, hört meine Antwort und möchte noch wissen, woher ich komme. Ob er dann mein Herkunftsland meint oder den Ausgangspunkt, an dem ich am Morgen losgegangen war, ist nicht wichtig. Beides zählt. Später bereitet mir jemand ein Essen zu oder zeigt mir einen Platz für mein Zelt und mich. Jemand lächelt und erzählt mir am Abend Geschichten. Ich lege mich früh hin und stehe früh wieder auf.

Gehe ich außerhalb der Saison, treffe ich auf wenige Menschen, manchmal kann ich sie an einer Hand abzählen. Meistens komme ich ins Gespräch, oft in ein gutes, die Begegnung erfährt Intensität und ich erinnere mich noch Jahre später an die Worte und Gedanken.

Die Geschichten, die man sich da oben erzählt, sind andere als unten. Der Augenblick verändert die Wahl der Worte, verändert die Gedanken. Dem Himmel näher gibt man vielleicht ein bisschen mehr von sich preis.

Nun aber wollte ich mit dem Auto los, allein, in eine Gegend, von der ich gehört hatte, dass sie wunderschön sei, zu einem Felsen, der mitten in einer Landschaft über sich selbst hinausragt und das schon seit tausenden von Jahren. “Piedra Parada”, der stehende Fels. In seiner Nähe sollte es eine Schlucht geben, durch sie hindurchzugehen, war mein Ziel. Eine Freundin wollte mitkommen und ich musste ihr sagen: “Nein, ich fahre allein”, es war nicht einfach für sie, das zu verstehen, ich verstand es auch nur ansatzweise.

Ich war nicht in der Erwartung eines Naturspektakels, dem höchsten Punkt, dem tiefsten See, dem größten Gletscher. Ich suchte auch kein einzigartiges Erlebnis, wie eine Sonnenfinsternis oder eine besondere Blüte. Ich wollte allein sein, allein in einer Umgebung, die ich noch nicht kannte, allein mit dem Himmel, dem Wind, der Sonne und dem Fluss. Wenig reden, wenig tun, mehr dasein, in einer Welt, die zwar nicht mit mir spricht, sich mir aber vielleicht offenbart.

Von Bariloche aus fuhr ich Richtung Süden bis El Bolson. Die Straße war asphaltiert, hatte aber tiefe Schlaglöcher, die nach dem Winter noch nicht ausgebessert waren. Ich fuhr Slalom oder auf der Fahrbahn gegenüber , nur selten kam mir ein Fahrzeug entgegen.

Nach der Hälfte der Strecke erschreckten mich die abgebrannten Hänge an beiden Seiten der Straße. Wochenlange Waldbrände im vorangegangen Sommer hatten diese braunen, tot wirkenden Flächen erzeugt. Flammen hatten Häuser verschluckt, Menschen waren evakuiert worden, sogar der Himmel bei uns zu Hause in Bariloche hatte sich am hellichten Tage verdunkelt.

In El Bolson habe ich auf einer Terrasse mit Blick auf mein Auto einen Kaffee getrunken, ein letztes Telefongespräch geführt und Wasser gekauft. Nach den ersten fünfzig Kilometern ging es dann auf “Ripio”, auf einer Schotterpiste weiter. Mir waren zuvor schon wenig Autos entgegen gekommen, aber jetzt fuhr ich und fuhr ich in eine Klarheit, in eine lupenreine Luft, ohne dass mir die Sicht durch ein entgegenkommendes Fahrzeug genommen wurde. Ein vorbeifahrender LKW hätte mich hier auf dieser Schotterpiste im Vorbeifahren in eine dunkle Staubwolke eingehüllt, er hätte mir für einen Moment die Sicht versperrt. Das passierte zum Glück nicht. Die Luft blieb klar wie mein Geist und beim ruhigen Schauen bis zum Horizont entspannten sich meine Augen, meine Augenlider und dann mein ganzes Gesicht. Ich fuhr langsamer, hielt an, stieg aus, atmete und betrachtete die Pflanzen am Wegesrand. Sie waren mir fremd, ich kannte ihre Namen nicht. Aber das leuchtende Gelb ihrer Blüten beruhigte mich. Ich pflückte ein paar, legte sie auf das Amaturenbrett, wo sie trocknen würden, wo ich sie anschauen könnte, wo sie vielleicht ihren Duft freigeben würden. Eingestiegen zündete ich den Motor und fuhr weiter.

Nach einer Stunde kam mir ein Bauer mit einem Pickup entgegen, er hatte Schafe geladen und grüßte mich. Ich grüßte zurück. Im Radio fand ich keinen Sender mehr, meine Augen schweiften langsam, ganz langsam von einer Seite zur anderen und hörten auf, etwas zu suchen. Ich kurbelte die Fensterscheibe runter, spürte die sehr trockene warme Luft. Im Rückspiegel sah ich die mir vertraute noch schneebedeckte Andenkette. Da drüben gehe ich wandern, da kenne ich mich aus. Die grünen Wälder, der blühende Ginster, die Lupinen lagen nun hinter mir, ich hatte meine Freunde verlassen und fuhr in eine fremde Gegend, in ein Nichts, in dem nur wenige Menschen leben, in eine Kargheit aus uralter Lava, hohen Felsen, trockenem Staub, stacheligem Gestrüpp und einem unendlichen Himmel, der alles überragte. Dieser Himmel war das einzige, was mir vertraut war.

Ich beobachte stets die Wolkenformen, suche Botschaften, Bilder und das Innere einer weißblauen Schönheit. Oft ist der Himmel blau, hellblau ohne Form. Und manchmal finde ich Gestalt, das, was ich suche. Und es gelingt mir, diese Schönheit in einem Foto festzuhalten. Jetzt aber lag der Fotoapparat fest eingepackt auf dem Beifahrersitz.

Es war windstill und ich fragte mich, ob und wem ich begegnen würde. Ein Gürteltier huschte von einer Straßenseite zur anderen. Es war meine erste Begegnung mit einem Tier nach den Schafen auf dem Pickup. Ein Mensch braucht Menschen. War es so?

Ich aber war auf dem Weg zu einem stehenden Felsen und einer Schlucht. Welche Geschichten sie mir erzählen würden, wusste ich noch nicht.




Ich ließ ein kleines Dorf links liegen, sah aber plötzlich eine junge Frau, die per Anhalter fuhr. Ich hielt an, sie stieg ein, freute sich und erzählte mir, dass sie im Ort ein paar Dinge hatte erledigen müssen und jetzt auf dem Heimweg war. Ich sollte sie ein Stück mitnehmen. Sie hieß Claudia, war dort, an den Flussufern des Gualjaina geboren, lebte mit ihrer Mutter und Schwester auf einer kleinen Farm, und wenn ich am Abend keine Herberge finden würde, sagte sie, solle ich einfach zu ihnen zurückkommen. “Wir sind drei Frauen mit Strom und Wasser”. Diese Einladung überraschte mich, ich bedankte mich herzlich, und es gab mir wirklich ein Stück Sicherheit, denn sie hatte das ernst gemeint. Nach einer Weile bat sie mich, anzuhalten. Ich erkannte keinen Weg, der von der Straße abging und zu einem Haus führen sollte. “Jetzt komme ich noch rechtzeitig zum Fussballspiel”, sagte sie und verschwand zwischen den Sträuchern. Ich hatte ganz vergessen, dass Argentinien an diesem Tag spielen würde. Und einen Moment lang dachte ich, wie es wäre das Spiel mit diesen Frauen zu schauen.

Es war bereits Nachmittag. Ich fuhr am Rio Chubut entlang, als ich plötzlich mit bloßem Auge Flamingos erkannte, die in den Seitenarmen des Flusses standen und nach Futter suchten.

50 Millionen Jahre altes Gestein umgab mich, einst Magma im Inneren der Erde, später von einem Meer überflutet, heute ein fruchtbares Tal. Vorfahren der Ureinwohner des Stammes der Tehuelches hatten sich hier vor mehr als 5000 Jahren niedergelassen.

Und dann erschien sie vor mir. Ein Statue, neben dem Fluss, zweihundert Meter hoch, erkaltete Brodelmasse, die einst im Schornstein eines Vulkans aufgestiegen war. Der Vulkan drumherum ist verschwunden, das Magma zu einem Felsen erstarrt blieb, war härter und beständiger. Ich hielt an und umrundete ihn.

Bei einem Bauern in der Nähe fand ich einen Platz für mein Zelt. Warum ich allein reisen würde, fragte er mich, und anstatt zu antworten, schaute ich auf ein kleines Transistorradio, das auf dem Tisch stand. “Wieviel steht es?” Das Fussballspiel war mir wieder eingefallen. “Argentinien liegt in Führung”. Sein Nachbar kam hinzu.

Ich stellte mein Zelt direkt an den Fluss, zog für einen Abendspaziergang los, wählte einen Punkt mit Aussicht und der Hund des Bauern begleitete mich.

Am frühen Morgen ging ich allein durch die Schlucht. Argentinien hatte gewonnen, das erfuhr ich noch, als ich am Abend zuvor ein paar Kekse eingekauft hatte. Ein Teil des Wohnzimmers im Bauernhaus war ein kleines Lebensmittellager. Hinterm Haus standen vierzig Kirschbäume, die roten Früchte leuchteten in der Sonne. Ich kaufte dem Bauern ein Kilo Kirschen ab, wusch sie im Fluss und verspeiste einen großen Teil zum Frühstück.

Bei meinen ersten Schritten durch den Canyon fingen die Bandurrias an zu singen. War es eine Begrüßung oder eine Warnung für die anderen? Es war eindrucksvoll. Die Felswände erwiderten den Gesang, die Schallwellen gingen mehrmals hin und her, mir blieb fast das Herz stehen. Ich setzte mich und lauschte dem Konzert.

Wie lange ich da saß, kann ich nicht sagen. Es kamen später Kletterer vorbei, die Bandurrias waren verflogen und ich machte mich auf den Heimweg.

Ich war zwar allein losgefahren, war fast niemandem begegnet, aber einsam fühlte ich mich in keinem Moment. Allein bin ich der inneren Ruhe etwas näher und meine Aufmerksamkeit lässt zu, dass sich die Natur hin und wieder offenbart. Dazu braucht es Stille und Konzentration. In der Schlucht der Bandurrias hatte ich so einem Augenblick gefunden.

Wildheit in der Küche

Nico Salguero begegnete mir zum ersten Mal in der Küche des Cafés Vertiente in Bariloche. Eine Freundin hatte zwei Plätze zu einem, so sagte sie, ganz speziellen Mittagessen reserviert. Drei Gänge, und die Gerichte sollten roh, vegan und fermentiert sein. Meine Neugierde war groß. Als ich die Tür des Cafés öffnete, konnte ich sofort einen Blick in die Küche werfen, es lief Reggiemusik und ein junger Mann in schwarzen Jeans, weißem T Shirt und Schildmütze wirbelte von Anrichte zu Anrichte. Seine beiden Arme waren bunt tätowiert, er wirkte zufrieden und hochkonzentriert. Wir setzten uns, weitere Gäste waren bereits eingetroffen.

Nach einem angenehmen Augenblick des Ankommens studierte ich die Speisekarte. “Hundert Prozent basierend auf Pflanzen” . Darunter ein kurzer Text vom Koch verfasst. Ein Satzfetzen ist mir in Erinnerung geblieben. “…..während ich in den Wald schaue und sehe, dass die Bäume sich mit ihren Ästen umarmen”.

Ein junger Kellner bringt uns den ersten Gang.

Bevor ich den Löffel nehme, denn es scheint eine Suppe zu sein, studiere ich noch einmal die Karte.

Hinter jeder Zutat steht eine Zeitangabe. “Verduras maceradas y deshidratadas 48 hs, Polvo de verduras fermentadas y deshidratadas 72h, die nächste Zutat fermentierte sogar 18 Monate. Das war ungewöhnlich, die Farben und Formen waren neu, der Geschmack einzigartig. Es war ein Essen für alle Sinne. Das einzige, was ich kannte, war die pikante Kapuzinerkresse und die Löwenzahnblüten als Zutaten der Suppe.


Nico, der von sich selbst sagt, dass er gar kein Koch sondern ein Alchemist ist, kommt aus Cordoba (Argentinien), hat in Barcelona gearbeitet und reist im Moment durch Lateinamerika, um in den unterschiedlichsten Küchen zu arbeiten und Erfahrungen zu sammeln. Seine beiden Passionen, Essbares zubereiten und in der Natur sein vereinigen sich in ihm und transformieren zu wunderbaren Gerichten mit lebenden Mikroorganismen, die er direkt von seinen Wanderungen in den Bergen mitbringt.

Wenn er nicht in der Küche steht, läuft er extreme Marathons oder sucht in der Natur neue Zutaten. Er findet in Eis gefrorene Beeren, Wurzeln und Kräuter und das Sonderbarste, was an diesem Tag zum Hauptgang auf den Tisch kam, war “El barba del viejo, (Der Bart des Alten). Gelierte kleine Kugeln aus dem Tee eines uralten Mooses hergetellt liegen auf einem Süßkartoffelmus. Gekocht ist das nicht, es schmeckt ungewöhnlich, denn vor Augen habe ich die an Bäumen hängende Pflanze, die ich zufälligerweise am Tag zuvor auf einer Wanderung selbst fotografiert hatte. Man sagt, dass die Luft noch rein ist, wo dieses Moos wächst.

Mosgo español

Aus Algen zaubert er leuchtend blaues Pulver, roter Staub aus Rote Beete verteilt er über einem fermentierten Pilz und alles ist lebendig, voller kleiner Mikroorganismen, die wir zu uns nehmen und die sich mit unserem Körper gut verstehen. Dazu serviert er ein Glas Wein oder Kombucha oder irgendein anderes unbekanntes fermentiertes Getränk.

Was für ein Farbentanz auf Schieferplatten, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Meiner Freundin, die mich zu diesem Essen brachte, war ich dankbar und Helen, der Chefin des Cafés gratulierte ich zu diesem gelungenen Angebot. Mit Nico hatte ich dann die Gelegenheit, ein paar Tage später ein längeres Gespräch zu führen und ich spürte die Energie seiner Passion ganz nahe. Seine Augen leuchteten, wenn er davon sprach, wie er Zucker so kristallisiert und die Beeren darin verarbeitet, so dass es aussieht, als seien sie gefroren. Wenn er erzählt, wie er tagelang durch die Wälder streift, später dann einer Freundin und Kräuterexpertin seine Mitbringsel zeigt, um sich genau erklären zu lassen, um welche Pflanze es sich handelt, ob sie nur genießbar oder auch bekömmlich ist, ob sie heilende Eigenschaften hat oder etwa giftg ist. Dann geht er in die Küche und probiert aus.

Während ich dieses schreibe, ist er bereits in Peru, streift dort durch die Natur oder trifft sich mit Freunden, die ähnlich zaubern wie er. Dass er im nächsten Jahr wiederkommen möchte, hat er gesagt. Ich bin mal gespannt und würde mich riesig freuen.

EIN BUCH ENTSTEHT

So wird es aussehen, das Buch. Es erscheint im März 2022 in Deutschland. Im Moment befindet es sich im Layout, dann wird es noch einmal korrigiert und Anfang Januar 2022 wird es gedruckt. Spannend ist es schon, und viel muss ich derzeit nicht tun.

Es tut sich von selbst. Ich bin gerade wieder in Bariloche und besuche alte und neue Orte. An den alten Orten, von denen ich auch im Buch schreibe, erscheint mir manchmal die Vergänglichkeit. Ich gehe den gleichen Weg, aber einiges ist nicht mehr so wie ich es beschrieben habe. Ein Steg über dem Bach ist zerstört, ich muss durchs Wasser waten und der Hüttenwirt ist nicht mehr da. Einen Moment lang stimmt es mich traurig, aber dann wird mir klar, dass ich mit meinen Aufzeichnungen nichts in Stein meißele, dass es Momentaufnahmen sind, die beim Lesen aber vielleicht doch eine Langzeitwirkung haben können, Momentaufnahmen, die im Gedächtnis bleiben. Dieser Gedanke gefällt mir.

Bella Vista, Bariloche

Bella Vista, Bariloche

Aufstieg zum Refugio Frey

Refugio Frey

Anemonen

Es passiert beim Gehen oft etwas Unvorhergesehenes , etwas ganz anderes als erwartet. Und meistens dann, wenn ich allein unterwegs bin. Ich öffne mich noch mehr der Umgebung und den Menschen, die mir begegnen. Und die bringen mich dann wieder zu neuen Themen. Und vielleicht sogar wieder zu einem neuen Buch. Mal sehen.

Buchhandlung in San Martín de los Andes

Gestern war wieder einmal nach mehreren stürmischen Tagen der Strom ausgefallen. Das passiert öfter. Nur als er zurückkam und alle wieder Licht hatten, blieb es bei uns dunkel. Das war komisch. Also riefen wir am Morgen Roberto an, der uns mit solchen Dingen hilft. Und er kam schon mit der Vermutung, dass der zurückgekommene Strom etwas in den Leitungen zerstört haben musste. Während er draußen vor dem Haus arbeitete, kam sein Sohn Valentino zu mir in die Küche. Es war Samstag morgen und er hatte keine Schule. Ich gab ihm eine Erdbeere, die ich gerade gewaschen hatte. “Weisst du, wer das beste Tiramisu macht?”, fragte er mich. Ich hatte keine Ahnung. “Meine Tante, und sie mag auch die roten Äpfel lieber als die grünen”. Während er mir das erzählte, öffnete er eine Küchenschranktür nach der anderen und als er beim Kühlschrank ankam, fragte ich ihn , warum er das tat. “Ich schau nach, ob sie alle funktionieren”.

“Ach so.”

Als er durch unser Wohnzimmer ging, wunderte er sich über ein totes Tier , das auf einem Stuhl lag und er fragte mich, wo denn der Kopf sei. Was er gesehen hatte, war ein braunes Kaninchenfell.

Und dann fiel ihm noch auf, dass unser Haus sehr einbruchssicher war und dass wir keine argentinische Flagge hatten. Ich wollte ihm noch sagen, dass ich Deutsche bin, aber dann dachte ich, dass das wirklich nicht wichtig sei.

Plötzlich aber wurde ich ganz hellhörig. Valentino hob seinen Zeigefinger und berichtete mir: ”Weisst du, ich kann sprechen ohne dass die anderen mich hören.”

“Wie machst du das?”, fragte ich ihn. “Das passiert in meinem Gehirn”, sagte er und klopfte dabei sanft gegen seine Schläfe.

“Ach so, Valentino, das nennt man Denken “, war meine Antwort .

“Nein”, sagte er prompt. “Ich höre meine Stimme ganz deutlich, denken ist anders und macht keine Geräusche”. Ich war überrascht. Valentino hatte mir in diesem Moment erklärt, wie es geht, wie Schreiben geht. Schreiben ist das auf Papier zu bringen, was ich in meinem Kopf spreche. Es sind nicht meine Gedanken, es ist meine Stimme, das ist ein Unterschied, das wurde mir in diesem Moment ganz klar.

Denken folgt schon einem Konzept, einer gelernten Logik, aber was Valentino meinte, ist ursprünglicher, ist nicht unbedingt folgerichtig. Seine Stimme im Kopf lernt doch gerade erst zu denken.

So hatte ich angefangen, vor zwei Jahren auf meine Stimme zu hören und alles aufzuschreiben. Auch das, was in Gedankenlosigkeit passiert. Aus diesen Themen wurden Kapitel und aus den Kapiteln wurde ein Buch. Klingt so einfach. Es war auch wirklich nicht kompliziert.

Ich wollte Valentino noch die kleinen Ibisküken im Garten zeigen, aber er interessierte sich mehr für unseren Wasserturm.

Dann rief sein Vater ihn. Roberto hatte die defekte Stelle des Kabels nicht finden können, uns aber fürs Wochenende ein Ersatzkabel gelegt. Ich verabschiedete mich von beiden und ging ins Haus, um mir einen Tee zu kochen und um den Akku meines Computers aufzuladen. Am Nachmittag wollte ich weiterschreiben.

Painted into nature

Barbara Drausal - Bilder unter freiem Himmel


“Dies ist kein Wald. Dies ist eine Kunstgalerie”. So kündigte Barbara Drausal, eine Malerin aus Bariloche, ihre Aktion an. Mit Hilfe ihrer Familie und Freunden hängten wir an einem Samstag Vormittag 48 Bilder in die Bäume eines Weges ein bisschen außerhalb von Bariloche. Weniger Touristen als die Menschen aus dem Städtchen benutzen diesen Weg zum Joggen, Spazieren gehen oder Fahrrad fahren. Angekündigt war die Aktion im Radio und den Sozialen Medien. Nach monatelangem Lockdown genossen die Menschen den Sommer mit oder ohne Maske. Der Tag wurde zum Treffpunkt, zum sich endlich einmal wiedersehen, zum sich in die Arme nehmen, gemeinsam Mate trinken und Kuchen essen. An den Bäumen hingen die Bilder, die sich mit der Sonne, den Schatten und dem Wind im Laufe des Tages stetig veränderten.

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Ohne eine gute Idee gibt es keine Projekte. Und ohne Raum, Ruhe und Stille gibt es keine guten Ideen.

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Und der Moment vor der guten Idee?

Barbaras Bilder sind aus der Natur heraus gemalt. So erscheint es mir oft. Meine Gedankenwelt, die immer etwas Konkretes wahrnehmen möchte, verbinden sie mit dem Lebendigen, mit dem Wesen der Natur. Und sind doch selbst lebendig. Ihr Baum, ihr Vulkan, ihr gemalter Wind und das fliessende Wasser lösen sich in der abstrakten Weite auf und sind doch konkrete Elemente dieses Landstriches, der Weite Patagoniens.

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Es fällt uns manchmal schwer, zu verstehen, dass das Menschliche das Natürliche ist. In unserem westlichen Bewusstsein werden Kultur und Natur als getrennt voneinander oder sogar als sich widersprechend gesehen. Doch wird beides geboren und beides stirbt. Kultur und Natur haben den gleichen Ursprung. Unser Planet lebt und der Wind hat einen Geist. Da sagen viele “Das stimmt nicht”. Und dann flüstere ich leise “Und wenn doch”.

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Barbaras Bilder hingen einen ganzen Tag auf diesem Weg. Ein paar Jugendliche mit Geländemaschinen stoppten, stiegen ab und stellten den Motor aus. Sie schoben ihr Motorrad ein Stück, damit die Bilder nicht einstaubten. Verwundert waren sie schon.

Die Bilder kann man kaufen. Mehr Bilder auf barbaradrausal.blogspot.com oder auf Instagram unter barbara_s_drausal

Into the beauty I walk

Auswandern ist eine Entscheidung, Einwandern ein Prozeß. So hatte ich entschieden, am 25. Dezember 2020 meinem Mann nach Argentinien zu folgen. Nicht wie sonst konnte ich als Touristin in Argentinien einreisen, diesmal war alles anders. “Reunificacíon familiar” , Familienzusammenführung war das offizielle Schlüsselwort der Website der argentinischen Botschaft. Ein bürokratischer Weg mit einigen Hindernissen.

Meine geplante Reise war zwar eine Zusammenführung mit meinem Ehemann, aber auch eine Trennung, denn unsere beiden Söhne blieben in Deutschland. Das war so abgesprochen.

Ein Flugticket nach Buenos Aires hatte ich noch aus der Zeit des ersten Lockdowns. Ich brauchte nur umzubuchen. Beim Einchecken sollte ich folgende Papiere vorlegen. Zertifikat unserer Eheschließung, einen Brief, der begründet, warum ich meinen Ehemann treffen wollte, eine Kopie seines argentinischen Personalausweises, einen PCR Test nicht älter als 72 Stunden, eine eidesstattliche Beglaubigung meiner Angaben nicht älter als 48 Stunden und eine Auslandsreiseversicherung, die besagt, dass auch die Kosten einer Coviderkrankung abgedeckt sind.

Einen Tag vor meiner Abreise veröffentlichten die argentinischen Zeitungen, dass sie aufgrund einer in Großbritannien aufgetretenen neuen Virusvariante einige Flugrouten aus Europa einstellen würden. Deutschland war dabei. Das war ein Schock. Sollte ich nicht einreisen können? Sollte mein Weg versperrt sein? Ich dachte über Umwege nach. Aber auch das schien aussichtslos. Ich entschied, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre und feierte Heiligabend in Ruhe und Frieden mit Matthias und Tomás. Normalerweise kann ich mich kaum an die vielen gemeinsamen 24. Dezember Abende erinnern, aber die Intensität und Einfachheit dieser Stunden werde ich so schnell nicht vergessen. Wir waren und sind eine starke Familie, auch wenn wir nicht immer zusammen sind.

Am nächsten Morgen brachte mich Matthias zum Bahnhof. Im Zug las ich die argentinischen Nachrichten und siehe da, Deutschland war aus der Liste der Länder, deren Flüge man stoppen wollte, verschwunden. Der Weg war frei.

Früh war ich am Checkin in Frankfurt und legte meine gesammelten Papiere vor. “Grund der Einreise?”, war die erste Frage, noch bevor mir die Flugbegleiterin “Frohe Weihnachten” wünschte. “Mein Ehemann ist Argentinier, er lebt dort”, erklärter ich ihr. Die nächste Frage überraschte mich sehr. “Wie lange haben Sie ihn nicht gesehen?”, wollte Sie das wirklich wissen? “Einige Monate”, war meine verwundernde Antwort. “Nah dann viel Glück beim neuen Dating mit einem alten Bekannten”. Sie lachte und gab mir meinen Boarding Pass und meine Papiere zurück.

Die Maschine war nahezu ausgebucht, man hatte mir zweimal Fieber gemessen und mindestens dreimal meine Papiere gecheckt, bevor ich einsteigen konnte. Dass ich keine Touristin war, zeigte sich noch einmal ganz deutlich, denn ich war weit und breit die einzige Deutsche unter den vielen heimreisenden Argentiniern und Paraguayern in der Maschine. Erst in Ezeiza, dem Flughafen in Buenos Aires, sprach ich mit einem jungen Deutschen, der seine Verlobte in Cordoba besuchen wollte. Auch das war möglich und galt als Familienzusammenführung.

Ich kam wie immer in den Morgenstunden in Buenos Aires an, hatte gut geschlafen und freute mich darauf, Martíns Tante, eine Dame im hohen Alter von 89 Jahren, die schon über neun Monate Lockdown hinter sich hatte, in die Arme zu nehmen. Strahlend mit weit ausgestreckten Armen begrüßte sie mich. Meinen Mundschutz steckte ich schnell in die Tasche und freute mich, sie so gut gelaunt anzutreffen. Gegen Mittag gingen wir essen. Cafés und Restaurants hatten geöffnet und ich genoß die Wärme und meine ersten Schritte über den bröckelnden Bürgersteig vorbei an offenen Kiosken, Geschäften, Frisören und Hundesalons. Straßenlärm, Menschen in Eile, gestapelte Wassermelonen zum Kauf angeboten, all das bedeutete ein Stückchen Freiheit, ein bisschen Luft holen und Durchatmen, denn ich kam aus einer Welt, die mir meine Bewegung nehmen und mir das Gehen und Weitergehen nicht mehr erlauben wollte. Ich spürte, was ich von früher schon kannte, “Wenn ich gehe, dann geht es”. Und alles geht ein bisschen besser.

Bis in den späten Abend erzählten Martha und ich uns Geschichten. Zuvor hatte ich mir in den Straßen von Recoleta ein bisschen Proviant für meine Weiterreise zusammengekauft, denn ein Freund sollte mich am nächsten Morgen um 6.00 Uhr abholen. Uns stand eine 1700 Kilometer lange Autofahrt bevor.

Um 5.00 Uhr frühstückte ich mit Martha, die in einem seidenen, japanischen Morgenmantel vor mir saß. Ihre Augen leuchteten. Und ich fragte mich, wann sie das letzte Mal Besuch gehabt und wann sie jemandem das letzte Mal eine Tasse Tee angeboten hatte.

Eine Stunde später verließ ich an einem sommerlichen Sonntag Morgen eine schlafende Stadt in einem bis unter die Decke vollgepackten Auto. Mariano, seine Freundin Daniela und ich fuhren einmal quer durch Argentinien, durch mehrere Provinzen, durch verschiedene Zeit- und Klimazonen, durch knallende Sonne bei 38 Grad Celsius, durch Gewitterzonen mit Blitz und Hagel und durch heiße stürmische Winde. Selten hielten wir an, und immer wenn ich am Steuer saß, regte sich etwas Heftiges in mir. Meine innere Freiheit flackerte auf beim Blick auf die endlos lange Asphaltspur, die vor mir lag. Es war mir erst während der Pandemie wirklich bewusst geworden, wie wichtig mir meine Freiheit war, meine Freiheit selbst zu denken und zu handeln. Die Kunst im Augenblick zu sein und gleichzeitig zu reflektieren, was gerade passiert, hatte ich schon in anderen Krisenmomenten praktiziert. Fühlen und verstehen im gleichen Atemzug kann Verzweiflung transzendieren.

Mein Innerstes zeigte mir den Weg. Ich wusste, dass ich irgendwann die Pampa hinter mir lassen und die schneebedeckte Andenkette sehen würde. Manchmal zählte ich Flamingos, Schafe oder Rinder. Und manchmal träumte ich von einem besseren Danach.


Einmal fuhr ich in der Dämmerung hinter einem LKW her, der vorne und hinten von Polizeiautos begleitet wurde. Als wir eine Grenzkontrolle zweier Provinzen erreichten, hielt der LKW an, die Grenzpolizei kam aus ihrem Häuschen und mindestens drei Beamte fotografierten den Lastwagen. Ich verstand gar nichts und hoffte nur, dass man mich nicht kontrollieren würde, denn ich hatte mich nicht vorschriftsmäßig für die Durchreise der verschiedenen Provinzen registriert. Der LKW setzte sich wieder in Bewegung, man winkte sich freundschaftlich zu und mich ließ man durchfahren.

Erst viel später sah ich in Bariloche ein Foto des LKWs in der Zeitung. Es war die erste Lieferung der Impfung, die Patagonien erreicht hatte.

El paso del Cordoba

Ich hatte schon ein paar kürzere Touren hinter mir, da rief mich Silvana an, sie wolle mit mir eine dreitägige Tour unternehmen. Übernachten würden wir wild oder auf einem Campingplatz, Proviant müssten wir mitnehmen und, so kündigte sie mir an, es solle richtig heiss werden. Ich sagte sofort zu. Zwei Tage später fuhren wir durch das Valle Encantado am Rio Limay entlang bis Confluencia, wo wir auf eine Schotterpiste abbogen. Der Rio Traful schlängelte sich noch eine Weile neben uns her, bevor der Weg allmählich in die Berge führte.

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Der Paso del Cordoba verbindet Traful mit San Martín de los Andes. Am Rio Caleufu stoppten wir. Nach einem Bad im eiskalten Blau ging es weiter. Unser Ziel war ein Campingplatz direkt an einem See, dem Lago Filo Hua Hum. Uns war während der Fahrt nur ein Auto begegnet, erst auf dem Campingplatz begegneten wir wieder anderen Personen. Wir hatten Glück, denn es gab noch einen Platz für uns direkt am See. Uns blieb noch ein bisschen Zeit bevor die Sonne unter gehen sollte. Wir gingen um den See, pflückten am austretenden Fluss Bachminze, schauten den Fliegenfischern zu, aßen die dunklen Beeren der Berberispflanze und schauten einfach nur Richtung Himmel, wo sich ganz allmählich die ersten Sterne zeigten. Das Surren der Libellen, das Aufspringen der Forellen und die Schreie der Teros stillten mein Heimweh nach Wirklichkeit.

Silvana hatte einen vegetarischen Eintopf mitgebracht, den erhitzten wir, tranken ein Gläschen Wein und brachten auf einer Feuerstelle Wasser zum Kochen, um einen Tee mit den frischen Minzblättern zuzubereiten. Ich schlief im Zelt und meine argentinische Freundin in einem selbstgenähten Biwak am Wasser.

Lago Filo Hua Hum

Lago Filo Hua Hum

Verbindungsfluss zwischen Lago Filo Hua Hum und Lago Nuevo

Verbindungsfluss zwischen Lago Filo Hua Hum und Lago Nuevo

Am nächsten Morgen gingen wir früh los. Luftlinie immer Richtung Cerro Falkner, ein Berg, der schon zu der Region von San Martín de los Andes gehört. Es war sehr , sehr heiss und ich musste viel öfter als sonst eine Pause einlegen.

Gegen Mittag legte ich mich nach einem kleinen Mittagessen, Käse, Nussbrot und Erdbeermarmelade (das Wasser tranken wir immer aus den Flüssen und Seen) unter einen Baum. Ich dachte an Matthias und Tomás zu Hause in Deutschland, an meine Freundinnen und Freunde. Die Bedeutung der Wörter “Lockdown, Kontaktsperre, Risikogruppe, Distanzierung, Reiseverbot etc. waren so weit weggerückt, wo meine Maske war, hatte ich längst vergessen und Angst mich bei Silvana anzustecken hatte ich keine, denn sie war selbst ein paar Monate zuvor heftig an Covid erkrankt und hatte sich gut wieder erholt. Ich ging davon aus, dass ihr Körper voller Antikörper war. Jedenfalls war sie fitter und ein paar Jahre älter als ich. Sie hatte mir von ihren Lebenskrisen erzählt und als ich mir mal wieder den Kopf mit Seewasser kühlen musste, weil ich sonst vielleicht umgekippt wäre, viel mir der eine Satz ein, den mir mal ein Freund gesagt hatte.

“Wenn etwas in deinem Leben kollabiert, und da kann es hunderte von Szenarien geben, dann ist es immer eine Möglichkeit, noch tiefer ins Leben einzutauchen.”

“Also Luca”, dachte ich, mach dich bereit, geh weiter, es kann nur noch intensiver werden.

Der Heimweg war durchflutet vom Blau der Seen und des Himmels. Die Felsen flimmerten in der Hitze, mein Körper schmerzte, aber das war mir egal.

Am nächsten Morgen hatte ich Lust auf der Terrasse der Rezeption des Campingplatzes zu frühstücken. Kaffee würde meinen Kreislauf in Schwung bringen und in meiner Nase hatte ich noch die Erinnerung an den Duft des selbst gemachten Brotes, dass ich am vortag in der Küche liegen gesehen hatte. Ich überredete Silvana, die auch gleich ihr Handy einpackte, denn nur dort hatte man Internet, jedenfalls manchmal.

Camping Filo Hua Hum

Camping Filo Hua Hum

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Handys in der Warteschlange

Handys in der Warteschlange

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Ich lernte die Schwiegertochter der Campingbesitzerin kennen, Natalia. Sie half über Sommer hier draußen aus, hatte uns das Frühstück serviert und uns ein paar Tipps für Wanderungen gegeben. Dann aber erzählte sie über sich selbst. Sie studierte und schrieb eine Examensarbeit über die Folgen der Pandemie auf den Tourismus. Sie wünschte sich mehr Sinn im Reisen und Menschen mit einem intensiveren Blick auf das Andere, Ungewohnte und Neue. Reisen bedeutete für sie zu sich zu kommen, egal wohin man fuhr. Und sie freute sich darüber, dass die Argentinier in diesem Jahr nicht nach Miami oder Uruguay “flüchteten”, sondern ihr eigenes Land besser kennenlernten. Ich dachte bei diesem Gedanken an die 81 Millionen Deutschen, die alle zum gleichen Zeitpunkt nur in Deutschland verreisen sollten. Wie sollte das gehen?

Der Wunsch der Menschen auf neue Horizonte, auf Unbekanntes und Neues wird immer bestehen bleiben. Er ist ein Teil des Wesentlichen, des Lebens.

Ich ging zu unserem Platz zurück, baute das Zelt ab, packte alles in unser Auto und wartete auf Silvana, die noch einmal kurz in den Bergen verschwunden war.

Gegen Mittag machten wir uns auf den Heimweg. Ich war bereit, allein oder mit Silvana noch weitere Horizonte zu sehen, zu erkunden und zu überschreiten.

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Martín pescador. Eisvogel

Martín pescador. Eisvogel

Als wir uns Bariloche näherten und wieder Handyverbindung hatten, klingelte Silvanas Telefon. Ihr Schwester rief uns an und lud uns zum Himbeerpflücken in ihrem Garten ein.

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Ich durfte mir mehr als genug mit nach Hause nehmen.

Wandern durch die Pandemie

Wandern durch die Pandemie

 

 

Wandern. Dafür kann es viele Gründe geben. Aufbrechen, um dem zu Hause zu entfliehen. Gehen, weil zu langes Sitzen ungesund ist. Gipfel stürmen, weil ein Höher, Schneller und Weiter das Selbstbewusstsein stärkt. Oder einfach nur wandern, weil es Spaß macht, erholt, den Kopf entlastet und den Körper fordert. Beim Wandern stellt sich ein Rhythmus ein, der die Gedanken auflöst. Vielleicht ist gerade das so angenehm. Viele gehen allein oder zu zweit, manche in Familien oder kleinen Gruppen, in Turnschuhen oder Bergschuhen, perfekt ausgerüstet oder einfach nur mit einer Flasche Wasser und einem Müsliriegel im Gepäck. Und viele haben eine ernste Geschichte dabei. Aber alle gehen wissend, dass es gut tut, Wege zu erkunden, die sie näher in die Natur bringen.

Während der letzten Monate und gerade in der Zeit des Lockdowns ist das Gehen unter freiem Himmel für mich noch beruhigender und befreiender geworden. Dabei ist Abstand halten einfach und tief durchatmen notwendig, um weiter zu kommen, zu sich zu kommen und anzukommen. Gerade auch wenn es bergauf geht.

Schon früher haben Menschen in Krisenzeiten versucht, mit dem Wandern das Weite zu suchen. So hat beispielsweise der bis heute viel zu unbekannte deutsche Schriftsteller Jürgen von der Wense die Nazizeit wandernd überstanden. Ohne festen Wohnsitz konnte er nicht erfasst und eingezogen werden. Als Untermieter wohnte er nur gelegentlich in möbelierten Zimmern. Zwischen 1930 und 1945 wanderte er durch Nordhessen, schrieb in jener Zeit über 3000 Briefe und hielt sich nie zu lange irgendwo auf. So wanderte er in und durch seine innere Emigration.

Zur gleichen Zeit verfasste Nan Shepard in Schottland ihr Buch „Der lebende Berg“. Aufzeichnungen aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges beschreiben tagelange Wanderungen durch ihre heimatlichen Berge, die Cairngorms, im Norden Schottlands.

Meistens geht sie allein, manchmal mit Freunden. Sie „entgeht“ dem Kriegsgeschehen, das lediglich als „ein entferntes Donnern im Buch präsent ist. Da gibt es die Flugzeuge, die auf dem Plateau zerschellen und ihre Besatzung das Leben kosten: die Verdunkelungsnächte, in denen sie zu dem einzigen Radio in der Gegend unterwegs ist, um Nachrichten über das Kriegsgeschehen zu hören; das Fällen der Waldkiefern auf den Rothiemuchus Ländereien für die Kriegsanstrengungen.“ So zitiert Robert Macfarlane im Vorwort. Nan Shepard beschreibt an einer Stelle ihrer Aufzeichnungen, wie sie „im Laufe der Zeit lernte, ziellos in die Berge zu gehen, bloß um mit dem Berg Zeit zu verbringen, so wie man einen Freund besucht zu keinem anderen Zweck, als Zeit mit ihm zu verbringen“.

 Ist es heute schwieriger geworden, sich so intensiv zurückzuziehen? Kann man aussteigen und trotzdem zu Hause bleiben?  Kann es uns wie Nan Shepard es beschreibt gelingen,  „das Gewöhnliche zu durchleuchten?“

 Hier in den deutschen Mittelgebirgen  wandern wir durch Kulturlandschaften, seit vielen tausend Jahren eine durch Menschen geprägte, veränderte Natur. Auf jedes Ding wurde schon hundertmal geschaut, jede Wiese abgegrast. Es gibt kein Unbekanntes mehr und doch haben auch diese Hügel ihren Reiz nicht verloren.

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So nehme ich es wahr, wenn ich von zu Hause, nach einer einstündigen Fahrt über die Autobahn am Ende oder Anfang des Nachtigallentalweges in Königswinter ankomme, um wieder einmal durch das Siebengebirge zu laufen. 

 

Vom Niederrhein aus ist das Siebengebirge die erste etwas höher gelegene Wanderregion. Die höchsten Erhebungen mit fast 500 Metern sind der Ölberg und die Löwenburg.

Wir gingen vom Petersberg zum Einkehrhaus, einem alten Gasthaus aus dem Jahre 1927. Da wir schon am Morgen von Düsseldorf aus angereist kamen, kehrten wir ein, genossen einen frischen Milchkaffee, wissend dass es noch sechs weitere Hügel gab, die zu begehen waren. Das Einkehrhaus mit seinen Innenräumen im Originalzustand hat eine große Terrasse unter alten Bäumen, so dass es an diesem heißen Sommertag einfach war, einen Schattenplatz zu finden. Bevor wir uns setzten hatten wir uns die Hände desinfiziert und unseren Namen, unsere Adresse und Handynummer in ein Formular eingetragen. Ich tue dies mit gemischten Gefühlen, kann mich nicht daran gewöhnen, will mich auch nicht daran gewöhnen. Ich halte es einfach nur aus. So hoffe ich, geht es vielleicht am schnellsten wieder vorbei.

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Wir waren einer der ersten Gäste an diesem Morgen, nur eine Familie mit einem kleinen Kind saß etwas abseits von uns und frühstückte ausgiebig. Das Kind war maskenlos, der Kellner aber, der uns begrüßte trug einen Mundschutz, und als er uns begrüßte, fielen mir seine freundlichen Augen auf. Dieser Blick lächelte. Und seine Stirn bewegte sich. An den Augenrändern faltete sich die Haut zu kleinen Fältchen. Er begrüßte uns und nahm die Bestellung auf.

Der Milchkaffee tat gut und die Lust nun aufzubrechen und durch den Wald zu laufen war deutlich spürbar.

Wir gingen zu dritt durch einen unsicheren Spätsommer vorbei an Streuobstwiesen mit Sommeräpfeln und Birnen, durch ein knisterndes Land, das versuchte, dieser Krise Herr zu werden, gingen durch den dunklen Schatten eines durstigen, grünen Laubwaldes, von dem ich nicht weiß, was er vielleicht wusste.

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Gegen Mittag kamen wir auf dem höchsten Hügel des Siebengebirges an, auf dem Ölberg.  Auf einer abgelegenen Terrasse neben dem Restaurant fanden wir einen Sitzplatz, bestellten selbstgemachte Limonade und durften unsere mitgebrachten Brote essen. Der Wirt schenkte uns zu unserer Überraschung noch ein paar frisch geerntete Äpfel aus seinem Garten. Von unserem Platz aus hatten wir einen grandiosen Blick auf das Rheintal, die ehemalige Hauptstadt Bonn und die Vulkanerkegel der Eifel.

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„Die Hügel sprechen am liebsten von den Bergen“, dieses alte russische Sprichwort fiel mir ein, bei dem Gedanken, dass ich in diesem Sommer auch gerne durch die Alpen gewandert wäre.

 

Nach der Stärkung auf dem  Ölberg gingen wir weiter über die alte Burgruine Rosenau zur Löwenburg. Nur selten begegneten wir anderen Wanderern, vielleicht war es doch vielen zu heiß. 

Das Siebengebirge hat so viele Pfade, Wege und Wirtschaftsstraßen, so dass man sich leicht verlaufen kann. Aber manchmal ist es auch einfach gar nicht wichtig, wo man sich gerade befindet, denn immer wieder tauchen uralte beschriftete Steine am Wegrand auf, die weiterhelfen und Ziele aufzeigen.

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Einen Entgegenkommenden nach dem Weg zu fragen, ist seit alters her eine gute Methode mit dem anderen ins Gespräch zu kommen. Wir tun es auch öfter und sind meistens überrascht über ein kurzes Gespräch, das oft wirkt, wie ein Schluck frisches, klares Wasser.

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Von der Löwenburg über das Milchhäuschen ging es durch die Seitentäler des Rheins zurück zum Petersberg.

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Auf den Terrassen des grandiosen Hotels, das einst Sitz der Alliierten Hohen Kommission, den höchsten Vertretern der westlichen Siegermächte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war, endete unsere Tour bei einem guten Glas Wein und einem Abendessen.

 

Eine Hügellandschaft ist es, die wir durchwanderten, in nicht ganz einfachen Zeiten. Was sonst vielleicht gewöhnlich ist, erschien an diesem Tag in einem anderen Licht.

 

 

Über Schnee und Asche am Vulkan Puyehue vorbei

Letzte Woche erhielt ich eine weitergeleitete Whatsapp von einer Freundin:

“Hallo Wanderinnen und Wanderer,

nach dieser schlechten Wetterperiode möchten wir Euch zu einer Tour zum Cerro Mirador am Pass Cardenal Samore einladen. Wir treffen uns am Sonntag, den 13. 10. um 7 Uhr am Petrobas del Ñireco. Wie immer, reserviert unter folgenden Telefonnummern von Juanjo oder Andi.

Bringt warme Kleidung mit, gutes Schuhwerk, Sonnenbrille , Sonnenschutzmittel,, Wasser, Proviant und Euren Ausweis, weil wir die Grenze passieren.

Die Tour kostet 1000 Pesos pro Person für den Bergführer, die Ausrüstung und die Versicherung. Bitte teilt Euch die Spritkosten für die Autofahrt. “


Ich brauchte noch en paar weitere Infos und als ich sah, dass das Wetter richtig gut werden sollte, sagte ich zu. Und hier begann nach einer zweistündigen Autofahrt, hinter der argentinischen, aber noch vor der chilenischen Grenze, also im Niemandsland, gegen 9.00 Uhr morgens unsere Tour.

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An das Gehen in den Schneeschuhen gewöhnte ich mich schnell. Es waren am Morgen -4 Grad Celsius gewesen, so dass die Schneedecke am Vormittag noch eine feste Eisschicht hatte. Aber auch Schneeschuhe haben Haken, die einem beim Gehen Halt geben. Juanjo, unser Bergführer, hatte uns kurz die Tour erklärt. Wir würden drei bis dreieinhalb Stunden für den Hinweg brauchen und zu unserer Linken würden wir immer den Vulkan Puyehue sehen.

Dieser Vulkan war im Jahre 2011 zum letzten Mal ausgebrochen und hatte die unmittelbare Umgebung in Schutt und Asche gelegt. Wälder wurden zerstört, der Strom fiel in den umliegenden Orten aus, die nächst gelegenen Flughäfen waren lange geschlossen, aber zum Glück kam niemand ums Leben. Seine Aschewolke stieg zehn Kilometer hoch und umrundete ein- oder sogar zweimal die Erde. Der Krater des Vulkans selbst ist erloschen. An der nördlichen Seite des Berges hatte sich eine Falte aufgetan, ein Riss im Gebirge. Das ist nun sieben Jahre her. Man sagt, er bricht alle fünfzig Jahre aus.

Nun liegt er ruhig vor uns und begleitet uns jeden Moment auf unserer Tour.

Vulkan Puyehue, Chile

Vulkan Puyehue, Chile

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Nur wo der starke Wind den Schnee verweht, taucht die Asche des Vulkans auf. Hier liegt nicht so wie in der Steppe ein Pulverstaub, sondern es waren an dieser Stelle kleine poröse Steinchen, die damals vom Himmel fielen.

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Die Sonne stieg höher und die Stimmung in der Gruppe war super.

Hinter uns, ebenfalls auf der chilenischen Seite tauchten zwei weitere Vulkane auf, der Vulkan Osorno und der Vulkan Puntiagudo.

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Vulkan Osorno und Vulkan Puntiagudo, beide in Chile

Vulkan Osorno und Vulkan Puntiagudo, beide in Chile

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Nach dem letzten Anstieg lag der Lago Constancia vor uns. Wir hatten unser Ziel erreicht, Juanjo fand einen windgeschützten Platz und wir packten unseren Proviant aus.

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Der Schnee wurde weicher, für Momente wärmte uns die Sonne.

Juanjo wählte für den Rückweg eine leicht abgewandelte Route.

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Gegen drei Uhr Nachmittags kamen wir wieder an der Passstraße, die von Villa La Angostura und zur chilenischen Stadt Osorno führt, an.

Thank you so much to all of you. We really had a great day together.

And thank you very much Juanjo Puliafito, our tour guide.

See you soon.

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Von Bariloche zum Puerto Blest


Eine Wintertour

Seit ein paar Wochen bin ich wieder in Bariloche und vor ein paar Tagen hatte für mich zum ersten Mal fühlbar die Erde gebebt. Ich spürte es am ganzen Körper und in meiner Kaffeetasse, die vor mir auf dem Tisch stand, waren kleine Wellen zu sehen. Weil sie halb leer war, konnte nichts überschwappen.  Für einen kurzen Moment war ich beunruhigt. Aber eigentlich ging alles schnell vorbei.

Mir wurde klar, dass ich nie festen Boden unter meinen Füßen haben würde. Die Erde ist so.

Am Tag darauf fand ich eine kurze Notiz in der Zeitung. Das Beben hatte eine Stärke von 6 auf der Richterskala und sein Zentrum befand sich auf der anderen Seite der Anden, in Chile, ungefähr 150 Kilometer Luftlinie von hier.

Schon bei meiner Ankunft galt für den Vulkan Villarica bei Pucon, ebenfalls in Chile, die Warnstufe orange.

Und gestern hatte sich in der Antarktis ein riesiger Eisberg von der schwimmenden Eisfläche des Südpols,  dem Schelfeis, abgelöst. Das passiert, es hat nach Meinung der Wissenschaftler mit dem Klimawandel nichts zu tun.

Nun treibt ein Stück Eis, siebzehn mal größer als Paris, durch die Gewässer der Antarktis. Es wird ganz langsam auftauen. Die Erde ist so.

Diese Ereignisse erzählt man sich hier kurz, eine Erwähnung nebenbei, aber niemand sorgt sich weiter. Ich auch nicht.

 

 

Susana, eine Freundin aus Bariloche, hatte mich gefragt, mit ihr eine zweitägige Reise zu unternehmen. Es sollte mit dem Schiff über den Lago Nahuel Huapi zum Puerto Blest gehen. Dort liegt, mitten in den Anden ein kleines Hotel, von dem aus man wunderschöne Touren unternehmen kann.  Ich sagte natürlich sofort zu.

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Einen Tag später holte sie mich vor meiner Haustür ab. Die Wetterprognosen waren schlecht, es sollte regnen, schneien und richtig kalt werden. Ich hatte für diese zwei Tage mehr Gepäck mit als sonst.

Wir fuhren zehn Kilometer in die Berge hinein, ließen das Auto auf einem bewachten Parkplatz des kleinen Hafens „Puerto Pañuelo“ unterhalb des grandiosen Hotels Llao Llao stehen und stiegen auf einen modernen Katamaran um.

Beim Auslaufen aus dem Hafen kamen wir an einem alten, eindrucksvollen Schiff mit dem Namen „Modesta Victoria“ vorbei. Dieser alte Ausflugsdampfer ist über achtzig Jahre alt und bringt täglich bis heute Touristen auf die umliegenden Inseln des Sees.

Modesta Victoria

Modesta Victoria

Nachdem die Region im Jahre 1934 per Gesetz zum Nationalpark erklärt wurde, wollte man auch den Tourismus zum Florieren bringen. Deswegen hatte  man im Jahre 1935 den Bau der Modesta Victoria in Auftrag gegeben. Das Schiff wurde in einer Amsterdamer Werft gebaut, wieder in Einzelteile zerlegt und über den Atlantik gebracht. In Bariloche baute man währenddessen neben dem Hafen eine kleine Werft, um das Schiff nach seiner Ankunft wieder zusammenzubauen. Im Jahre 1938 trat der Ausflugsdampfer seine Jungfernfahrt über den Lago Nahuel Huapi an. Der zweite Weltkrieg hatte in Europa begonnen und machte für viele Argentinier die Reise in die alte Welt unmöglich. Man reiste in seinem eigenen Land. Damit begann in Bariloche mit dem Tourismus als Wirtschaftszweig eine Blütezeit.

Die meisten Mitreisenden auf unserem Katamaran  waren keine Touristen. An Bord befanden sich viele Chilenen, die auf diesem Weg die Anden überquerten, um am Abend in Puerto Varas anzukommen. Es war im Winter manchmal die einzige Möglichkeit hier im Süden nach Chile zu kommen, denn diese Seepassage war anders als die Straßenpässe das ganze Jahr befahrbar.

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Die komplette Überquerung besteht aus vier Busfahrten und drei Bootstouren. Es ist eine alte Handelsroute zwischen Chile und Argentinien. Von der argentinischen Seite aus reicht ein Arm des Lago Nahuel Huapis tief in die Anden hinein. Auf  der chilenischen Seite ragt der Lago Todos Los Santos weit in den Osten der Anden. Zwischen beiden großen Seen befindet sich nur noch der kleine See Lago Frias und drei Strecken über Land, die man in einem Bus zurücklegt. Die Region um Puerto Blest ist Argentiniens regenreichste Gegend, die „selva valdiviana“. Ein kalter Dschungel mit Lianen, Bambusgräsern, Fuchsien, Flechten,  Farnen und tausendjährigen Lärchen.

Wir waren gerade an Bord gegangen, da fing es an zu schneien. Es wurde windiger und kälter. Den Möwen, die hinter unserem Schiff herflogen, machte das nichts aus. Das Schiff jedoch brauchte für die einstündige Strecke viel länger als sonst. Ich zog mich warm an und ging an Deck, um zu fotografieren. An beiden Seiten des Sees ragten dunkle, steile nur an wenigen Stellen  schneebehangene Berge aus dem Wasser in die Höhe. Wir befanden uns über der tiefsten Stelle des Sees. Das Licht wurde immer weniger und Farben gab es keine mehr. Die Welt hüllte sich in Töne zwischen einem matten Weiß, dem Grau der Wasseroberfläche und dem Schwarz der Steilhänge rechts und links von mir. Das Schiff fuhr in ein nebeliges Nichts.

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Nach fast zwei Stunden kamen wir im Puerto Blest an. Die Chilereisenden stiegen zuerst aus, ihr Gepäck wurde zügig in schon bereitstehende Busse verladen, einige spielten mit dem Schnee, nicht alle waren warm genug angezogen, viele in Turn- oder Halbschuhen. Das Wetter hatte sie wahrscheinlich überrascht. Susana und ich nahmen unsere Rucksäcke und betraten das Hotel. Da die Zimmermädchen ebenfalls mit unserem Schiff angereist kamen, mussten wir eine Stunde warten, bevor wir unser Zimmer beziehen konnten. Von unserem Fenster aus konnten wir auf den See schauen, der aber vor lauter Schneeflocken fast nicht zu erkennen war. Wir zogen uns warm an, packten unseren Proviant ein und verließen das Hotel.

Zuallererst fiel mir wieder die Ruhe auf, die Stille, in die wir gingen. Susana und ich waren die einzigen, es gab keine anderen Spuren im Schnee.  Der Weg führte über kleine Stege, durch den immergrünen valdivianischen Regenwald, sub-antarktisch, mit üppiger Vegetation, die der Schnee zugedeckt hatte. Dieser Dschungel reicht von der chilenischen Pazifikküste bis tief in die  Anden hinein und gehört zu  einer der gehölzreichsten Wälder der Erde.

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Plötzlich hörten wir einen Vogel schreien. Ich kannte das Geräusch schon von der Insel Chiloé. Es war der Gruß des Chucao, einem kleinen Vogel, den man nahezu nie zu Sehen bekommt. Er lebt tief im Wald, nistet gern in feuchten,  schlammigen Böden und bewegt sich sehr, sehr schnell. Sein Schrei ist mir mittlerweile vertraut und ich freue mich immer, wenn ich ihn höre.

Wir kamen an tosenden Wasserfällen, den Cascadas de Los Cantaros, und kleinen Lagunen vorbei, es schneite und schneite, die kalte Feuchtigkeit kroch langsam durch unsere Regen- und Daunenjacke. Aber umkehren wollten wir nicht. Bis wir an eine Stelle kamen, von der Susana sagte: „Wir sind kurz vor der heladera“, dem Kühlschrank. Gemeint war eine Gletscherzunge, die sich vor unserem Weg auftun sollte. Da es aber so extrem viel geschneit hatte und wir nur normale Bergschuhe anhatten, keine Schneeschuhe oder Steigeisen im Rucksack hatten, entschieden wir uns, wieder umzukehren.

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Wir suchten uns einen trockenen Platz und packten unseren Proviant aus. Susana hatte eine Dose Thunfisch, Salatblätter, Brot und eine Avocado mitgebracht, ich selbstgemachte Empanadas gefüllt mit Mangold, Walnüssen und Käse. Im Hotel hatten wir unsere Thermoskanne mit heißem Wasser auffüllen lassen, so dass wir uns einen Ingwertee machen konnten.

Und während wir unseren Hunger stillten, kam für einen Moment die Sonne heraus, die so stark war, dass unsere nassen Jacken dampften. Ich spürte die wärmende Sonne durch die feuchten Daunen meines Anoraks hindurch.

Wir packten alles wieder ein und gingen ganz langsam zurück. Pausen machten wir ungern, denn wenn wir uns nicht bewegten, fingen wir an zu frieren.

Im Hotel Puerto Blest durften wir unsere nassen Sachen auf den Boden des wärmsten Raumes legen. Auf uns wartete eine heiße Dusche und ein leckeres Abendessen.

Der Schneesturm verschlimmerte sich noch in der Nacht.

Am nächsten Morgen lag noch mehr Schnee, aber zu unserer großen Freude schien die Sonne auf die Berge, den See und den kalten Dschungel.

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Nach dem Frühstück liefen wir zum Lago Frias, den wir mit einem kleineren Katamaran überquerten. Über unseren Köpfen kreisten Kondore und ein argentinischer Mitreisender erzählte mir, dass diese Vögel eine Höhe von bis zu 7000 Metern erreichen können.

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Der Himmel war blau, aber den Vulkan Tronador konnten wir trotzdem nicht sehen, ein paar Wolken hatten sich um seine drei Gipfel gehängt. Nur seine Gletscher tauchten an seinen steilen Abhängen auf.

Es fehlte noch ein kurzes Stück und wir erreichten die Anlegestelle. Die Chilereisenden gingen zur Grenzkontrolle und zum Zoll, stiegen dann in ihren bereitstehenden Bus ein, um ihre Andenüberquerung fortzusetzen. Für uns war es die Endstation. Wir fuhren mit dem gleichen kleinen Katamaran wieder zurück, liefen durch den Wald zum Hotel und fuhren am Nachmittag über den Lago Nahuel Huapi wieder noch Hause.

In Bariloche war es ein bisschen wärmer. Aber der kalte, schneebedeckte Dschungel hatte uns fasziniert.

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Sapucai, Rio Chubut, Patagonien

Carmen war schon ein paar Tage zu Besuch in Bariloche. Wir waren gemeinsam zum Refugio Frey gelaufen, hatten die beeindruckenden Ausblicke vom Cerro LLao LLao genossen und waren mit Martin über Villa Langostura nach Chile gefahren, um in heissen Quellen zu baden. Doch die bewegendste Exkursion begann an einem sonnigen Morgen vor der Haustür unserer Freundin Barbara.

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Pünktlich um 9.30 Uhr kamen Flor und Dominique mit ihrem Pick up, luden unsere Rucksäcke auf und die Reise ging los.

Unser erstes Ziel war El Bolson, hundert Kilometer südlich von Bariloche. An Seen vorbei auf der legendären Ruta 40, die von Alaska bis Tierra de Fuego geht.

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Die Talebene von El Bolson

Die Talebene von El Bolson

Rio Chubut

Rio Chubut

Nach einer Kaffeepause in El Bolson verließen wir die Ruta 40 und fuhren weiter nach El Maitén. Ein paar Kilometer weiter verließen wir die asphaltierte Straße und folgten auf einem steinigen Weg dem Rio Chubut flußaufwärts. Wir fuhren durch patagonische Steppe, wissend das hinter dem Horizont die schneebedeckten Berge der Anden liegen, wo der Rio Chubut entspringt und dann vom Westen 800 km weit Richtung Osten fliesst, wo er in den Atlantik mündet. In der Sprache der Tehuelche, den Ureinwohnern dieses Landstriches, heisst Chubut “klar” und “durchsichtig”. Und wegen seines Goldgehaltes gab es sogar am oberen Flusslauf eine Goldmine, die aber nicht mehr in Betrieb ist. Es war später Frühling und im Winter hatte es viel geschneit, so dass der Fluss sehr hoch stand. Aber zum Glück konnten wir ihn durchqueren, erst mit dem Auto, dann zu Fuß und später mit den Pferden.

Alto Chubut

Alto Chubut

Nach einer abenteuerlichen einstündigen Fahrt kamen wir auf Tammys und Dominiques kleiner Farm an, zwei Holzhäuser umgeben von Pappeln und Weiden, direkt am Fluss. Auf den Wiesen grasten die Pferde. Horaldo hatte uns ein Asado zubereitet. In der kleinen Hütte war der Tisch gedeckt. Zum Asado gab es Salat, selbstgebackenes Brot und Zitronenlimonade mit frischer Minze, die unterhalb der Hütte an einem kleinen Bachlauf wuchs. Zum Nachtisch dann noch einen riesigen Flan.

Es gab keinen Strom und kein Netz und am Horizont der Bergketten lösten sich meine Gedanken in Staub auf.

Es gab keinen Strom und kein Netz und am Horizont der Bergketten lösten sich meine Gedanken in Staub auf.

Nach dem Essen badeten wir im Fluss und ließen uns einfach mit der Strömung treiben. Während einer kleinen Abendwanderung tauchten die ersten Sterne am Himmel auf und ich entschied, draußen zu schlafen.

Ich hatte einen guten Schlafsack und eine Wollmütze. Die Milchstraße verlief genau über meinem Kopf und zu meinen Füßen stand das Kreuz des Südens. Schnell schlief ich ein, bis 5 Uhr in der Frühe. Und zu meiner Freude qualmte schon der Rauch aus der kleinen Hütte. Flor war auch schon wach und hatte Kaffee gekocht.

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Wenn sie nicht hier oben ist, lebt sie in Bariloche.

Wenn sie nicht hier oben ist, lebt sie in Bariloche.

Um 9.30 Uhr brachen wir auf, um die Mirandas zu besuchen, eine Siedlerfamilie, die zu Fuß drei Stunden flussaufwärts lebt. Der Großvater der Familie war aus Chile nach Argentinien gekommen, um sich hier am oberen Rio Chubut, unterhalb der verlassenen Goldmine niederzulassen. Neben ihrem Wohnhaus benutzten die Mirandas die Schuppen und eine kleine Kapelle der ehemaligen Minenarbeiter. Blanca hatte für uns Pasta zubereitet, Manuel, ihr Ehemann, hatte eine Ziege im Ofen gebraten. Vor und nach dem Essen gab es Mate. Carmen trank zum ersten Mal Mate und machte so viele Fehler, dass sie die beiden Cousins Daniel und Manuel zum Lachen brachte.

Der Hausherr Don Manuel zeigte uns noch sein Rennpferd, das schon mehrere Preise gewonnen hatte und nach einer kleinen Siesta an einem Bach kehrten wir wieder zurück.

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Auf Sacupai hatte Horaldo schon zwei Pferde gesattelt und Carmen und ich konnten in den Abendstunden zusammen mit Dominique den Rio Chubut durchqueren, diesmal aber ging es flussabwärts.

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Die Sonne ging spät unter. In der kleinen Hütte gab es ein leckeres Abendessen auf dem Feuer zubereitet und diesmal wählte ich zum Schlafen ein Dach über dem Kopf.


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Am nächsten Morgen, nach einem wunderbaren Frühstück mit frischen Eiern, brachte uns Dominique glücklich und zufrieden wieder nach Bariloche.

Ich werde zurückkommen. Sacupai ist ein Ort, aber auch ein Seelendasein.

In the middle of Germany

oder

eine Wanderung durch das Rothaargebirge

 

 

Es waren die heissesten Wochen im Jahr, das Thermometer immer knapp unter 40 Grad und wir dachten dass es auf einer Höhe von 800 m im Sauerland vielleicht ein bisschen kühler wäre. Carmen und ich fanden ein sehr schönes, kleines Hotel in Willingen und buchten es für zwei Tage. https://www.angelikas-hotel.de/  Die freundlichen Besitzer, Angelika und  ihre Tochter berieten uns bei unserer Ankunft und schnell fanden wir einen guten Weg für den Tag. Es war der Rothaarsteig von Brilon bis Willingen, eine Strecke von etwas mehr als zwanzig Kilometern, zum größten Teil durch Wald. 

Angelika fuhr uns nach Petersborn, südlich von Brilon, dort starteten wir. Unser Mittagsziel waren die Bruchhausener Steine, beeindruckende Felsen, die schon von Weitem über den Wald hinausragen. Doch vorher kommt man an 1000jährigen Gemäuern vorbei, mit einer lieblichen Friedenskirche in der Nachbarschaft. Ein Kraftort, von denen wir auf unserem Weg noch mehreren begegnen sollten.

In Bruchhausen kehrten wir in einem Gutscafé ein, dem Rosenbogen. "Dinkelwaffeln mit Kräuterquark" war unser Mittagessen. Es musste sehr  leicht sein, denn es war wirklich heiss.

Von dort aus fanden wir unseren Weg nach Willingen, aber es ging nochmal richtig bergauf.

Unser Ziel hiess "Richtplatz" und dort kamen wir dann auch ziemlich erschöpft an.

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Am nächsten Tag wählten wir einen Höhenweg durch die Hochheide zum höchsten Berg von Nordrhein Westfalen, dem Langenberg, 843 m. Willingen ist ein Skigebiet und so konnten wir eine Gondel benutzen, die uns hinaufbrachte. Zu unserer Überraschung fanden wir rechts und links vom Weg Heidelbeeren in Hülle und Fülle. 

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Es sind die Wälder der Brüder Grimm aus Göttingen, die wir durchstreiften. Wälder, durch die der vergessene Schriftsteller Jürgen von der Wense lief. Wälder, in die der Sturm Kyrill im Januar 2007 mit einer Windgeschwindigkeit von 225 km/h seine Spuren hinterlassen hat. Wälder, in denen man verstummt und den Vögeln zuhört.

Und so war dann auch der Goldene Pfad eine Überraschung und lud uns ein zu einer kleinen Kronenmeditation.

Über den Langenberg ging es dann zurück nach Willingen zu unserer Unterkunft. 

Unser kleines Hotel war gut gewählt und wir danken Angelika und ihrer Tochter für den so freundlichen Empfang und die gute Betreuung.