Wandern durch die Pandemie

Wandern durch die Pandemie

 

 

Wandern. Dafür kann es viele Gründe geben. Aufbrechen, um dem zu Hause zu entfliehen. Gehen, weil zu langes Sitzen ungesund ist. Gipfel stürmen, weil ein Höher, Schneller und Weiter das Selbstbewusstsein stärkt. Oder einfach nur wandern, weil es Spaß macht, erholt, den Kopf entlastet und den Körper fordert. Beim Wandern stellt sich ein Rhythmus ein, der die Gedanken auflöst. Vielleicht ist gerade das so angenehm. Viele gehen allein oder zu zweit, manche in Familien oder kleinen Gruppen, in Turnschuhen oder Bergschuhen, perfekt ausgerüstet oder einfach nur mit einer Flasche Wasser und einem Müsliriegel im Gepäck. Und viele haben eine ernste Geschichte dabei. Aber alle gehen wissend, dass es gut tut, Wege zu erkunden, die sie näher in die Natur bringen.

Während der letzten Monate und gerade in der Zeit des Lockdowns ist das Gehen unter freiem Himmel für mich noch beruhigender und befreiender geworden. Dabei ist Abstand halten einfach und tief durchatmen notwendig, um weiter zu kommen, zu sich zu kommen und anzukommen. Gerade auch wenn es bergauf geht.

Schon früher haben Menschen in Krisenzeiten versucht, mit dem Wandern das Weite zu suchen. So hat beispielsweise der bis heute viel zu unbekannte deutsche Schriftsteller Jürgen von der Wense die Nazizeit wandernd überstanden. Ohne festen Wohnsitz konnte er nicht erfasst und eingezogen werden. Als Untermieter wohnte er nur gelegentlich in möbelierten Zimmern. Zwischen 1930 und 1945 wanderte er durch Nordhessen, schrieb in jener Zeit über 3000 Briefe und hielt sich nie zu lange irgendwo auf. So wanderte er in und durch seine innere Emigration.

Zur gleichen Zeit verfasste Nan Shepard in Schottland ihr Buch „Der lebende Berg“. Aufzeichnungen aus den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges beschreiben tagelange Wanderungen durch ihre heimatlichen Berge, die Cairngorms, im Norden Schottlands.

Meistens geht sie allein, manchmal mit Freunden. Sie „entgeht“ dem Kriegsgeschehen, das lediglich als „ein entferntes Donnern im Buch präsent ist. Da gibt es die Flugzeuge, die auf dem Plateau zerschellen und ihre Besatzung das Leben kosten: die Verdunkelungsnächte, in denen sie zu dem einzigen Radio in der Gegend unterwegs ist, um Nachrichten über das Kriegsgeschehen zu hören; das Fällen der Waldkiefern auf den Rothiemuchus Ländereien für die Kriegsanstrengungen.“ So zitiert Robert Macfarlane im Vorwort. Nan Shepard beschreibt an einer Stelle ihrer Aufzeichnungen, wie sie „im Laufe der Zeit lernte, ziellos in die Berge zu gehen, bloß um mit dem Berg Zeit zu verbringen, so wie man einen Freund besucht zu keinem anderen Zweck, als Zeit mit ihm zu verbringen“.

 Ist es heute schwieriger geworden, sich so intensiv zurückzuziehen? Kann man aussteigen und trotzdem zu Hause bleiben?  Kann es uns wie Nan Shepard es beschreibt gelingen,  „das Gewöhnliche zu durchleuchten?“

 Hier in den deutschen Mittelgebirgen  wandern wir durch Kulturlandschaften, seit vielen tausend Jahren eine durch Menschen geprägte, veränderte Natur. Auf jedes Ding wurde schon hundertmal geschaut, jede Wiese abgegrast. Es gibt kein Unbekanntes mehr und doch haben auch diese Hügel ihren Reiz nicht verloren.

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So nehme ich es wahr, wenn ich von zu Hause, nach einer einstündigen Fahrt über die Autobahn am Ende oder Anfang des Nachtigallentalweges in Königswinter ankomme, um wieder einmal durch das Siebengebirge zu laufen. 

 

Vom Niederrhein aus ist das Siebengebirge die erste etwas höher gelegene Wanderregion. Die höchsten Erhebungen mit fast 500 Metern sind der Ölberg und die Löwenburg.

Wir gingen vom Petersberg zum Einkehrhaus, einem alten Gasthaus aus dem Jahre 1927. Da wir schon am Morgen von Düsseldorf aus angereist kamen, kehrten wir ein, genossen einen frischen Milchkaffee, wissend dass es noch sechs weitere Hügel gab, die zu begehen waren. Das Einkehrhaus mit seinen Innenräumen im Originalzustand hat eine große Terrasse unter alten Bäumen, so dass es an diesem heißen Sommertag einfach war, einen Schattenplatz zu finden. Bevor wir uns setzten hatten wir uns die Hände desinfiziert und unseren Namen, unsere Adresse und Handynummer in ein Formular eingetragen. Ich tue dies mit gemischten Gefühlen, kann mich nicht daran gewöhnen, will mich auch nicht daran gewöhnen. Ich halte es einfach nur aus. So hoffe ich, geht es vielleicht am schnellsten wieder vorbei.

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Wir waren einer der ersten Gäste an diesem Morgen, nur eine Familie mit einem kleinen Kind saß etwas abseits von uns und frühstückte ausgiebig. Das Kind war maskenlos, der Kellner aber, der uns begrüßte trug einen Mundschutz, und als er uns begrüßte, fielen mir seine freundlichen Augen auf. Dieser Blick lächelte. Und seine Stirn bewegte sich. An den Augenrändern faltete sich die Haut zu kleinen Fältchen. Er begrüßte uns und nahm die Bestellung auf.

Der Milchkaffee tat gut und die Lust nun aufzubrechen und durch den Wald zu laufen war deutlich spürbar.

Wir gingen zu dritt durch einen unsicheren Spätsommer vorbei an Streuobstwiesen mit Sommeräpfeln und Birnen, durch ein knisterndes Land, das versuchte, dieser Krise Herr zu werden, gingen durch den dunklen Schatten eines durstigen, grünen Laubwaldes, von dem ich nicht weiß, was er vielleicht wusste.

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Gegen Mittag kamen wir auf dem höchsten Hügel des Siebengebirges an, auf dem Ölberg.  Auf einer abgelegenen Terrasse neben dem Restaurant fanden wir einen Sitzplatz, bestellten selbstgemachte Limonade und durften unsere mitgebrachten Brote essen. Der Wirt schenkte uns zu unserer Überraschung noch ein paar frisch geerntete Äpfel aus seinem Garten. Von unserem Platz aus hatten wir einen grandiosen Blick auf das Rheintal, die ehemalige Hauptstadt Bonn und die Vulkanerkegel der Eifel.

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„Die Hügel sprechen am liebsten von den Bergen“, dieses alte russische Sprichwort fiel mir ein, bei dem Gedanken, dass ich in diesem Sommer auch gerne durch die Alpen gewandert wäre.

 

Nach der Stärkung auf dem  Ölberg gingen wir weiter über die alte Burgruine Rosenau zur Löwenburg. Nur selten begegneten wir anderen Wanderern, vielleicht war es doch vielen zu heiß. 

Das Siebengebirge hat so viele Pfade, Wege und Wirtschaftsstraßen, so dass man sich leicht verlaufen kann. Aber manchmal ist es auch einfach gar nicht wichtig, wo man sich gerade befindet, denn immer wieder tauchen uralte beschriftete Steine am Wegrand auf, die weiterhelfen und Ziele aufzeigen.

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Einen Entgegenkommenden nach dem Weg zu fragen, ist seit alters her eine gute Methode mit dem anderen ins Gespräch zu kommen. Wir tun es auch öfter und sind meistens überrascht über ein kurzes Gespräch, das oft wirkt, wie ein Schluck frisches, klares Wasser.

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Von der Löwenburg über das Milchhäuschen ging es durch die Seitentäler des Rheins zurück zum Petersberg.

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Auf den Terrassen des grandiosen Hotels, das einst Sitz der Alliierten Hohen Kommission, den höchsten Vertretern der westlichen Siegermächte in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war, endete unsere Tour bei einem guten Glas Wein und einem Abendessen.

 

Eine Hügellandschaft ist es, die wir durchwanderten, in nicht ganz einfachen Zeiten. Was sonst vielleicht gewöhnlich ist, erschien an diesem Tag in einem anderen Licht.