“Warum Patagonien?” “Weil man an keinem anderen Ort, so vollständig allein ist”.
Florence Dixie, 1878
Ich kann allein in die Berge gehen, bis zu den Gipfeln, mit mir selbst sein, mit dem Fels, dem Gebirgsbach, dem Horizont und meinen eigenen Gedanken, die immer weniger werden, je länger ich gehe. Ich schaue den Condoren zu, den Wasserfällen und entdecke Blumen, die ich noch nicht kenne. Ich bin stundenlang unterwegs. Ich gehe und gehe und gehe, meistens ist da ein Ziel. Rund um Bariloche sind es die Hütten zum Übernachten. Oft erreiche ich sie schon am Nachmittag. Dann empfängt mich dort jemand, spricht, fragt mich, wie es mir geht, hört meine Antwort und möchte noch wissen, woher ich komme. Ob er dann mein Herkunftsland meint oder den Ausgangspunkt, an dem ich am Morgen losgegangen war, ist nicht wichtig. Beides zählt. Später bereitet mir jemand ein Essen zu oder zeigt mir einen Platz für mein Zelt und mich. Jemand lächelt und erzählt mir am Abend Geschichten. Ich lege mich früh hin und stehe früh wieder auf.
Gehe ich außerhalb der Saison, treffe ich auf wenige Menschen, manchmal kann ich sie an einer Hand abzählen. Meistens komme ich ins Gespräch, oft in ein gutes, die Begegnung erfährt Intensität und ich erinnere mich noch Jahre später an die Worte und Gedanken.
Die Geschichten, die man sich da oben erzählt, sind andere als unten. Der Augenblick verändert die Wahl der Worte, verändert die Gedanken. Dem Himmel näher gibt man vielleicht ein bisschen mehr von sich preis.
Nun aber wollte ich mit dem Auto los, allein, in eine Gegend, von der ich gehört hatte, dass sie wunderschön sei, zu einem Felsen, der mitten in einer Landschaft über sich selbst hinausragt und das schon seit tausenden von Jahren. “Piedra Parada”, der stehende Fels. In seiner Nähe sollte es eine Schlucht geben, durch sie hindurchzugehen, war mein Ziel. Eine Freundin wollte mitkommen und ich musste ihr sagen: “Nein, ich fahre allein”, es war nicht einfach für sie, das zu verstehen, ich verstand es auch nur ansatzweise.
Ich war nicht in der Erwartung eines Naturspektakels, dem höchsten Punkt, dem tiefsten See, dem größten Gletscher. Ich suchte auch kein einzigartiges Erlebnis, wie eine Sonnenfinsternis oder eine besondere Blüte. Ich wollte allein sein, allein in einer Umgebung, die ich noch nicht kannte, allein mit dem Himmel, dem Wind, der Sonne und dem Fluss. Wenig reden, wenig tun, mehr dasein, in einer Welt, die zwar nicht mit mir spricht, sich mir aber vielleicht offenbart.
Von Bariloche aus fuhr ich Richtung Süden bis El Bolson. Die Straße war asphaltiert, hatte aber tiefe Schlaglöcher, die nach dem Winter noch nicht ausgebessert waren. Ich fuhr Slalom oder auf der Fahrbahn gegenüber , nur selten kam mir ein Fahrzeug entgegen.
Nach der Hälfte der Strecke erschreckten mich die abgebrannten Hänge an beiden Seiten der Straße. Wochenlange Waldbrände im vorangegangen Sommer hatten diese braunen, tot wirkenden Flächen erzeugt. Flammen hatten Häuser verschluckt, Menschen waren evakuiert worden, sogar der Himmel bei uns zu Hause in Bariloche hatte sich am hellichten Tage verdunkelt.
In El Bolson habe ich auf einer Terrasse mit Blick auf mein Auto einen Kaffee getrunken, ein letztes Telefongespräch geführt und Wasser gekauft. Nach den ersten fünfzig Kilometern ging es dann auf “Ripio”, auf einer Schotterpiste weiter. Mir waren zuvor schon wenig Autos entgegen gekommen, aber jetzt fuhr ich und fuhr ich in eine Klarheit, in eine lupenreine Luft, ohne dass mir die Sicht durch ein entgegenkommendes Fahrzeug genommen wurde. Ein vorbeifahrender LKW hätte mich hier auf dieser Schotterpiste im Vorbeifahren in eine dunkle Staubwolke eingehüllt, er hätte mir für einen Moment die Sicht versperrt. Das passierte zum Glück nicht. Die Luft blieb klar wie mein Geist und beim ruhigen Schauen bis zum Horizont entspannten sich meine Augen, meine Augenlider und dann mein ganzes Gesicht. Ich fuhr langsamer, hielt an, stieg aus, atmete und betrachtete die Pflanzen am Wegesrand. Sie waren mir fremd, ich kannte ihre Namen nicht. Aber das leuchtende Gelb ihrer Blüten beruhigte mich. Ich pflückte ein paar, legte sie auf das Amaturenbrett, wo sie trocknen würden, wo ich sie anschauen könnte, wo sie vielleicht ihren Duft freigeben würden. Eingestiegen zündete ich den Motor und fuhr weiter.
Nach einer Stunde kam mir ein Bauer mit einem Pickup entgegen, er hatte Schafe geladen und grüßte mich. Ich grüßte zurück. Im Radio fand ich keinen Sender mehr, meine Augen schweiften langsam, ganz langsam von einer Seite zur anderen und hörten auf, etwas zu suchen. Ich kurbelte die Fensterscheibe runter, spürte die sehr trockene warme Luft. Im Rückspiegel sah ich die mir vertraute noch schneebedeckte Andenkette. Da drüben gehe ich wandern, da kenne ich mich aus. Die grünen Wälder, der blühende Ginster, die Lupinen lagen nun hinter mir, ich hatte meine Freunde verlassen und fuhr in eine fremde Gegend, in ein Nichts, in dem nur wenige Menschen leben, in eine Kargheit aus uralter Lava, hohen Felsen, trockenem Staub, stacheligem Gestrüpp und einem unendlichen Himmel, der alles überragte. Dieser Himmel war das einzige, was mir vertraut war.
Ich beobachte stets die Wolkenformen, suche Botschaften, Bilder und das Innere einer weißblauen Schönheit. Oft ist der Himmel blau, hellblau ohne Form. Und manchmal finde ich Gestalt, das, was ich suche. Und es gelingt mir, diese Schönheit in einem Foto festzuhalten. Jetzt aber lag der Fotoapparat fest eingepackt auf dem Beifahrersitz.
Es war windstill und ich fragte mich, ob und wem ich begegnen würde. Ein Gürteltier huschte von einer Straßenseite zur anderen. Es war meine erste Begegnung mit einem Tier nach den Schafen auf dem Pickup. Ein Mensch braucht Menschen. War es so?
Ich aber war auf dem Weg zu einem stehenden Felsen und einer Schlucht. Welche Geschichten sie mir erzählen würden, wusste ich noch nicht.
Ich ließ ein kleines Dorf links liegen, sah aber plötzlich eine junge Frau, die per Anhalter fuhr. Ich hielt an, sie stieg ein, freute sich und erzählte mir, dass sie im Ort ein paar Dinge hatte erledigen müssen und jetzt auf dem Heimweg war. Ich sollte sie ein Stück mitnehmen. Sie hieß Claudia, war dort, an den Flussufern des Gualjaina geboren, lebte mit ihrer Mutter und Schwester auf einer kleinen Farm, und wenn ich am Abend keine Herberge finden würde, sagte sie, solle ich einfach zu ihnen zurückkommen. “Wir sind drei Frauen mit Strom und Wasser”. Diese Einladung überraschte mich, ich bedankte mich herzlich, und es gab mir wirklich ein Stück Sicherheit, denn sie hatte das ernst gemeint. Nach einer Weile bat sie mich, anzuhalten. Ich erkannte keinen Weg, der von der Straße abging und zu einem Haus führen sollte. “Jetzt komme ich noch rechtzeitig zum Fussballspiel”, sagte sie und verschwand zwischen den Sträuchern. Ich hatte ganz vergessen, dass Argentinien an diesem Tag spielen würde. Und einen Moment lang dachte ich, wie es wäre das Spiel mit diesen Frauen zu schauen.
Es war bereits Nachmittag. Ich fuhr am Rio Chubut entlang, als ich plötzlich mit bloßem Auge Flamingos erkannte, die in den Seitenarmen des Flusses standen und nach Futter suchten.
50 Millionen Jahre altes Gestein umgab mich, einst Magma im Inneren der Erde, später von einem Meer überflutet, heute ein fruchtbares Tal. Vorfahren der Ureinwohner des Stammes der Tehuelches hatten sich hier vor mehr als 5000 Jahren niedergelassen.
Und dann erschien sie vor mir. Ein Statue, neben dem Fluss, zweihundert Meter hoch, erkaltete Brodelmasse, die einst im Schornstein eines Vulkans aufgestiegen war. Der Vulkan drumherum ist verschwunden, das Magma zu einem Felsen erstarrt blieb, war härter und beständiger. Ich hielt an und umrundete ihn.
Bei einem Bauern in der Nähe fand ich einen Platz für mein Zelt. Warum ich allein reisen würde, fragte er mich, und anstatt zu antworten, schaute ich auf ein kleines Transistorradio, das auf dem Tisch stand. “Wieviel steht es?” Das Fussballspiel war mir wieder eingefallen. “Argentinien liegt in Führung”. Sein Nachbar kam hinzu.
Ich stellte mein Zelt direkt an den Fluss, zog für einen Abendspaziergang los, wählte einen Punkt mit Aussicht und der Hund des Bauern begleitete mich.
Am frühen Morgen ging ich allein durch die Schlucht. Argentinien hatte gewonnen, das erfuhr ich noch, als ich am Abend zuvor ein paar Kekse eingekauft hatte. Ein Teil des Wohnzimmers im Bauernhaus war ein kleines Lebensmittellager. Hinterm Haus standen vierzig Kirschbäume, die roten Früchte leuchteten in der Sonne. Ich kaufte dem Bauern ein Kilo Kirschen ab, wusch sie im Fluss und verspeiste einen großen Teil zum Frühstück.
Bei meinen ersten Schritten durch den Canyon fingen die Bandurrias an zu singen. War es eine Begrüßung oder eine Warnung für die anderen? Es war eindrucksvoll. Die Felswände erwiderten den Gesang, die Schallwellen gingen mehrmals hin und her, mir blieb fast das Herz stehen. Ich setzte mich und lauschte dem Konzert.
Wie lange ich da saß, kann ich nicht sagen. Es kamen später Kletterer vorbei, die Bandurrias waren verflogen und ich machte mich auf den Heimweg.
Ich war zwar allein losgefahren, war fast niemandem begegnet, aber einsam fühlte ich mich in keinem Moment. Allein bin ich der inneren Ruhe etwas näher und meine Aufmerksamkeit lässt zu, dass sich die Natur hin und wieder offenbart. Dazu braucht es Stille und Konzentration. In der Schlucht der Bandurrias hatte ich so einem Augenblick gefunden.