Carlota Thumann

Eine junge Frau sitzt auf dem Sonnendeck eines Überseedampfers und liest ein Buch. Allein. Die Liegestühle neben ihr sind leer. In ihrer hellen, kurzärmeligen Bluse, dem dunklen, langen Faltenrock und ihren weißen Söckchen wirkt sie zufrieden. Ein warmer, windstiller, wolkenloser Tag. Vielleicht hatte das Schiff den Äquator längt passiert und war schon im südlichen Sommer angekommen. Diese junge Frau war keine Touristin, sie war nicht auf einer Reise, von der man zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Diese Frau hatte Deutschland verlassen, um einer Einladung eines Brieffreundes nach Paraguay zu folgen. In einem ihr unbekannten Südamerika wartete er auf sie. Ein paar Koffer für sich selbst und eine riesige Kiste für die Familie ihres Gastgebers Heinz Thumann hatte sie im Gepäck. Vielleicht war das Buch, das sie las, ein Sprachführer.

Lotte Fröhlich oder Carlota Thumann, wie sie später heißen wird, war in diesem Moment zwanzig, unabhängig und abenteuerlich. Das Schiff war auf dem Weg nach Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, am Rio de la Plata. Es ist das Jahr 1937, zwei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Hatten ihre Eltern in Köln die junge Frau deshalb einfach so gehen lassen? Hatten sie ihr ein besseres Leben bescheren wollen?

Heinz Thumann lebte als Auswanderer in Paraguay. Über den Briefwechsel einer Freundin hatte er von Lotte erfahren und sie kurzerhand eingeladen. Damit verknüpft war seine Hoffnung, dass Lotte ihn vielleicht heiraten würde. Aber aus Heinz wurde Hans, denn Lotte verliebte sich in seinen Bruder. Sie heirateten und ließen sich in der Nähe von Asunción nieder. Hans verdiente nicht viel, Lotte nähte Kleider, besorgte die Lebensmittel, schreinerte die Wiege, als die Kinder geboren wurden und kämpfte im subtropischen Klima gegen die Moskitos. Sie hängte Fenster zu und bedeckte die Kinderbettchen mit dünnen Tüchern und konnte dennoch nicht verhindern, dass einer ihrer Söhne und der Ehemann an Malaria erkrankten. Im Dschungel südlich von Asunción gab es keine Ärzte und keine Medikamente. Nur eine ganz genau dosierte Chiningabe entschied über Leben und Tod, Lotte war vorsichtig und zuversichtlich. Sie schaffte es und rettete so beiden das Leben.

Ein Umzug nach Misiones, in Nordargentinien folgte, zwei weitere Kinder kamen zur Welt. An den Gefahren des subtropischen Klimas und den damit verbundenen Anstrengungen hatte sich auch dort nichts geändert. Deswegen machte sich die Familie auf die Suche nach einer freundlicheren Umgebung. So reiste Hans Thumann im Jahre 1948 nach San Martín de los Andes, einem damals kleinen Ort in den Anden Nordpatagoniens. Carlota erinnerte sich immer gern an den Moment, in dem sie von einem LKW aus auf den kleinen Ort hinabschaute, es fehlten nur noch ein paar Kilometer, und vor Freude dachte, da unten irgendwo steht unser kleines Häuschen, unser neues Zuhause für unsere ganze Familie. Das war am 4. November 1949. Sie war mit zwei ihrer Kinder, mit Gerhard und Elmar, angekommen. Später kam Hans mit den beiden anderen Kindern nach.

San Martin de los Andes (Carlota Thumann)

San Martín de los Andes (Carlota Thumann)

San Martín de los Andes hatte bereits die ersten Skipisten, Touristen aus der Hauptstadt besuchten gerne den Ort. Hans gründete ein Fotogschäft, Carlota führte den Haushalt, half aber in der Nacht, Filme zu entwickeln. So entdeckte sie ihre Liebe zur Fotografie.

Ihr Haus mit dem Fotostudio steht heute noch in dem Städtchen und an einer weißübertünchten Wand sieht man, wenn man ganz genau hinschaut, in großen Lettern geschrieben. “Foto Thumann”.

Bald begann auch Carlota mit der Auftragsfotografie für Passfotos, Hochzeiten, Schulfeste, Taufen und andere Feierlichkeiten, sogar für Beerdigungen fotografierte sie. Der Friedhof der Stadt lag etwas weiter oberhalb in der gleichen Straße. Und immer wenn der Beerdigungszug an ihrem Fotostudio vorbeizog, hielt er an, Carlota trat aus dem Haus, der Sarg wurde geöffnet und ein letztes Foto entstand. Der anliegende Stadtpark diente oft als Außenkulisse für Fotos und schon bald zog Carlota allein, mit ihrem Hund oder mit Freunden in die umliegenden Wälder und hinauf in die Berge, die Kamera hatte sie immer dabei.

wilde Fuchsien

In San Martín de los Andes fühlte sich Carlota wohl. Rasch beteiligte sie sich am sozialen Leben des Städtchens, sang, tanzte und lachte. Aus dem Fotostudio wurde ein Fotogeschäft. Die Thumanns verkauften Fotoapparate an Touristen, und wer sich diese Anschaffung nicht leisten konnte, kaufte sich Filme, um sich von anderen fotografieren zu lassen. Das beste Geschäft machten sie im Winter, wenn Besucher aus dem Norden kamen, die noch nie Schnee gesehen hatten und sich in der weißen Schönheit fotografieren ließen.

Hans verließ Lotte und zog mit einer anderen Frau nach Junin de los Andes, überließ ihr aber das Geschäft, die nun ihre vier Kinder allein erziehen musste. Weit weg von größeren Städten, war Lotte darauf angewiesen, vieles selbst zu bewerkstelligen. Weiterhin nähte sie die Kleider ihrer Kinder selbst, kochte, kümmerte sich um die Hausaufgaben und stand im Fotogeschäft, um die Familie über Wasser zu halten. Sie hörte Radio, las Zeitung und war immer informiert.

Mit Carlotas aufmerksamen und ruhigen Betrachten in die ihr immer vertrautere Welt Nordpatagoniens, mit ihren Menschen im Ort, den Tieren, Pflanzen, dem See und dem Himmel blickt in diesem Teil der Welt zum ersten Mal eine Frau durch die Kamera und hält Szenen für uns fest. Sie entscheidet, was ihr wichtig ist und was wir heute sehen sollen. Das Licht Patagoniens hilft ihr dabei, das Plastische, Reale, Dynamische und manchmal auch Mysthische ihrer Umgebung einzufangen, sowie hier am Lago Lacar, dem See von San Martín de los Andes.

Im Jahr 1960, an einem sonnigen und windstillen Tag bestieg sie mit Freunden und ihrem Sohn Dietrich den bekanntesten Vulkan Argentiniens, den Lanín. Majestätisch thront er an der Grenze zu Chile und was aus der Entfernung so lieblich aussieht, ist eine rauhe, wilde, windige Gegend, auch heute noch.

Vulkan Lanín

Carlotas Fotos, zum größten Teil in Form von Negativen im Besitz ihrer Kinder, sind nicht nur ein Dokument ihrer Zeit und wichtig für die Geschichte Argentiniens, es gilt auch, einen Blick auf ihr künstlerisches Können zu werfen. Noch sind die über tausend Negative nicht digiltalisiert, sortiert und ausgewertet.

Hin und wieder entdeckt man in Fotobänden, Biographien oder Beschreibungen aus der Vergangenheit San Martín de los Andes Fotos von Carlota Thumann, einer Pionierin in ihrem Handwerk.

Ihr Sohn Gerhard hat die Fotografie von ihr gelernt und übernommen. Für eine Weile kehrte er in die Geburtsstadt seiner Mutter zurück, um in einem Kölner Fotostudio “Foto Stein” zu arbeiten. Für Agfa Gevaert sollte er Repräsentant in Argentinien werden, doch dann hätte er in Buenos Aires leben müssen. Er kehrte bald schon wieder zurück nach San Martín de los Andes. Carlota selbst besuchte ihre Familie in Deutschland einige Male. Im Jahre 1984 folgte sie einer Einladung der internationalen Fotoausstellung “Photokina” nach Köln. Drei Jahre später besuchte sie zum letzten Mal ihre Familie.

Carlota sitzt auf einem Stein, sie trägt einen selbstgestrickten Wollpullover mit Norwegermuster, eine dunkle, enganliegende Hose und Bergschuhe. Ein makellos weißer Kragen ragt aus dem Ausschnitt ihres Pullovers hervor. Carlota trug gerne Blusen, zu jeder Gelegenheit und zu jeder Jahreszeit. In einer Hand hält sie ihre Kamera, mit der anderen stützt sie ihren Kopf, der Ellebogen ruht auf dem Knie des angewinkelten Beines. Sie schaut in die Ferne, fast träumend, dennoch mit einem klaren Blick. Im Hintergrund ein sanftes Tal, noch schneebedeckt, dahinter dunkle Hügel, dahinter der Lago Lacar, hinter dessen Ufer sich die Andenkette erhebt. Sie sitzt am Rande des Weges zum Cerro Chapelco, dem heutigen Skigebiet der Region. Diese Berge, den See und die Wälder hat sie immer geliebt, hier fühlte sie sich zu Hause. Hier starb sie 2009 im Alter von 92 Jahren.

Heute gilt es ihre Arbeiten genau zu betrachten, in ihrem historischen Kontext zu bewerten und über Argentinien hinaus zu veröffentlichen.

Dank der intenisven und ausführlichen Recherchen der argentinischen Historikerin Ana Maria de Mena, Biografin Carlota Thumanns, liegen Aufsätze und Interviews in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften in Spanischer Sprache vor. Susana Schier, Carlota Thumanns Schwiegertochter, arbeitet an der Digitalisierung und Kategorisierung der großen Vielzahl der Negative. Ihr gilt auch der Dank für die Veröffentlichung der Fotos in diesem Blogbeitrag.